Ein Livestream weil was passiert ist – kein Programm

Samstag morgen. Hamburg. Schanzenviertel. Facebook Livestream. Großer Sender. Die Nacht nach den Krawallen in Hamburg beim G20 Gipfel. Wir sehen zwei Leute, die wir normalerweise Gaffer nennen würden, die durch die Lücken eines Gitters in einen zerstörten Laden reinschauen, um einen Blick auf das Chaos zu erhaschen. Und die Handykamera der reportierenden Person des Senders macht Sekunden später – genau das gleiche. Der Sender gafft für uns alle… Das ist schade. Gut für Clicks. Aber falsch für Programm-Macher. Falsch für Journalismus und Medien. Und – egal ob groß oder klein – praktisch alle Medien haben in diesen Tagen im Livestream genau das gleiche gemacht.

Aber es gibt auch eine gute Seite dieser Medien-Geschichte. Man kann was lernen daraus, wenn man Programm-Macher ist statt Stream-Ablieferer.Aus dem was in den Livestreams lief in diesen Tagen können wir alle die im Netz berichten was lernen. Und das geht deutlich über chaotische Tage und Krisen- und „Front“-Berichterstattung hinaus. Der Kerngedanke: Ein Livestream nur weil irgendwas passiert ist alles – aber kein Programm. Programm wird von Programm-Machern gemacht. Darum heißen die so. Und das sollten wir alle vielleicht wieder ernster nehmen – auch wenn wir über Bedeutung von Journalismus und Medien sprechen. Wer Lust hat: hier ein paar Gedanken dazu…

Kein Medien-Bashing – es geht um Journalismus

Nein – das wird kein Medienbashing. Ich will auch gar keine Medien explizit herausheben oder tadeln, keinen Journalismus anschwärzen. Denn klar ist: jetzt im Rahmen der G20 „Berichterstattung“ in den sozialen Medien hatten fast alle nur ein Ziel hatten. Klicks abkriegen. Das kann man legitim finden, muss man aber deshalb nicht gut finden. Aber so ist das halt. Ich als Digisaurier tue mir natürlich leicht: ich bin nicht mehr 30. Ich muss meinen CvD, meinem Sender oder sonstwem nicht unbedingt jeden Tag beweisen, dass ich das draufhabe, was da so in diesen sozialen Meiden abgeht. Nur damit ich auch morgen noch einen Job im Journalismus habe. Insofern habe ich wirklich leicht reden.

Programm-Macher Gedanken – vielleicht weltfremd, aber ich darf das

Seht mir daher nach, was ich hier so sage. Aber denkt trotzdem wenn möglich als Programm-Macher und als Medien darüber nach. Vor allem jenseits von Krawall-Nächten und ähnlichem.  Daher diese Anmerkung vorab:

„Auch wenn ich es nicht gut finde – ich habe jedes Verständnis für die zumeist jüngeren Programm Kollegen, die im Livestream das gemacht haben, was sie gemacht haben. Freiwillig – aber getrieben von Zuschauern und Quoten.“

Digisaurier Programm-Macher Meinung

Die Quoten sind zum Beispiel bei Facebook „Live-Zuschauer gleichzeitig“. Das fixt einen an. Oder sie drücken sich aus in Likes, Shares oder Kommentaren. Gehen die Likes hoch und fliegen die Daumen ins Livestream Bild? Super! Sehen wir das die Kommentarspalte nur so rast? Perfekt! Reichweite! Dann denken wir auch: aha – wir machen Programm mit dem Livestream.

Das ist aber ein Irrtum. Und dieser Irrtum wird bei solchen Events zwar deutlicher sichtbar – ist aber leider auch Dauerzustand bei vielen Livestreams. Er kommt aus einer sehr alten Zeit. Der Zeit als Fernsehen das Leitmedium per se war. „Ich sende – also ist es wichtig. Und du guckst!“

Lief doch gut, oder? Kann sein – aber ob es Programm war?

Langeweile & Monotonie wird nicht Programm, weil wir die Kamera drauf halten

Man kann, wenn man sich diese G20-Krawall-Nacht-Livestreams anguckt, über Moral, journalistische Sorgfalt und dergleichen reden. Oder über Einordnung schimpfen die fehlt. Und den Informationswert von vielen Streams hinterfragen. Man kann das befriedigen von simplen Neugierden der Zuschauer betrauern – oder härter ausgedrückt: elektronisch verbreitete Gafferei.

Und – wenn wir ganz ehrlich sind – das ist nicht nur im Netz so, das mit Wenig bis Nichts Programm gefüllt (nicht gemacht) wird. So mancher Brennpunkt, so manches Spezial zu welchem Thema auch immer, tut im Grunde das gleiche. Gerade und vor allem bei Katastrophen und Unglücken. Keiner weiß was, keiner will spekulieren – aber mit „Nix Neues“ und „ich will nicht spekulieren, aber…“ lässt sich ja auch im Fernsehen Quote machen. Programm ist das nicht wirklich. Medien tun das nicht nur auf den neuen Verbreitungswegen, sondern auch auf den alten. Journalismus ist das für mich auch dann nicht, wenn man sagt: wir sollen ja nur reportieren und berichten was passiert. Denn das meint mehr, als Kamera draufhalten.

Darum mal kurz weg von Katastrophen und Krawallen, die mit scheinbaren relevanten Bildern inhaltliche Leere kaschieren. Denn mir geht es um was allgemeineres. Der Livestream der alten Tage, also das lineare zeigen einer Diskussion,  eines Vortrages, eines Konferenztages ist meistens kein Programm. Und spätestens bei der Übertragung einer Konferenz oder eines Vortrages merken wir das auch. Da steht nur einer und redet. Solange das nur der Ersatz für die ist, die nicht dabei sind – okay. Aber wenn man glaubt, das was da übertragen wird, sei Programm, dann stimmt das nicht.

Einer muss sich vorher Gedanken machen, wenn Programm entstehen soll statt nur Livestream. Irgendeiner…

Außer: der Vortragende hat sich wirklich Gedanken gemacht. Über Dramaturgie und Ablauf, Highlights und Momente in seinem Beitrag. Hat das Präsentationstool (egal ob Powerpoint oder sonstwas) nicht mit einem an die Wand geworfenen Spickzettel verwechselt, sondern erzeugt mit grafischen Elementen, Textzeilen oder Bildern, mit Wortbildern und gut gesetzten Breaks eine spannende Atmosphäre. Und dann muss der Streamer „nur noch“ dafür sorgen – was oft genug auch untergeht – dass der Zuschauer des Streams die Folien, die Mittel die der Redner einsetzt idealerweise auch dramaturgisch richtig serviert bekommt und optisch gut erkennen kann. Plötzlich wird der Lviestreamer zum Regisseur, der die Dramaturgie des Vortragenden unterstützt, heraus arbeitet.

Oft genug ist das zu bewundern bei den Ted-Talks – sicher einer der Gründe warum sie so legendär sind.

Ramsey Musallam. Credit: Ryan Lash/TED.

Drama, Baby, Drama – aber dazu müssen alle die Drama-Dramaturgie kennen beim Livestream

Ein guter Vortrag ist wie der Auftritt einer Band oder ein Theaterstück – er hat eine Dramaturgie und die Regie überlegt sich, wann sie welche Kamera, welches Licht und welche anderen Elemente einsetzt, um genau das auch zu verstärken was der Vortragende erreichen will. Dafür gibt es bei Shows die inhaltlichen Durchlaufproben.

Nachdem bei vielen Vorträgen so eine Dramaturgie gar nicht eingebaut ist, fällt nicht auf, dass der Livestream meist nur einfach mit ein oder zwei Kameras recht lieblos abfilmt was „passiert“. Was meist herzlich wenig ist und locker auch Radio sein könnte.

Und wenn einer was anderes macht, ist der Livestreamer meist völlig überrascht. Er hat das ja noch nie vorher gesehen, denn Proben gibt es nicht. Und genau deshalb wird daraus auch meist kein Programm: weil sich keiner wirklich vorher überlegt hat, was sind die besonderen Punkte der Geschichte. Wie krieg ich die spannend für die Zuschauer – egal ob vor Ort oder eben im Stream. Und warum zur Hölle soll sich das überhaupt einer anschauen. Kur: weil sich keiner die Zeit nimmt, das was der Vortrag bietet – wenn er was bietet – auch aus der Tür bzw. über den Livestream transportiert zu kriegen.

„Weil eh keiner einen Plan hat, fällt auch nicht auf, wenn planlos gestreamed wird. Hauptsache es bewegt sich was…“

Digisaurier-Erkenntnis

Ja – klar. Das kennen wir alle. Lahme oder gar einfallslose Vorträge, die man sich dann auch noch als Konserve angucken soll. Ganz ehrlich: wir gucken die ja dann später eh nicht… Mit etwas Glück schaffen sie es auf eine Merkliste – die dann in Vergessenheit gerät. Oder am Ende des Jahres eh gelöscht wird, weil man nicht dazu gekommen ist…

Livestream Zuschauer Zahl
Der Kick: Live Zuschauer beim Livestream

Ein Handylivestream ist doch was anderes – das ergibt automatisch Programm! Wirklich?

„Aber, lieber Digisaurier Christian: ein Livestream mit dem Handy ist doch was gaaanz anderes. Da ist man draußen, mitten im Geschehen. Da tut sich was! Das gab es halt zu Deiner Zeit noch nicht.“ höre ich jetzt den einen oder anderen sagen. Stimmt. Nur: wenn vor unserer Handy-Kamera scheinbar was passiert, dann agieren wir genauso wie die Vortragsstreamer. Wir lassen den Stream laufen und glauben das reicht. Das sich da was bewegt täuscht Inhalt oder Geschichte vor. Aber ganz oft ist da genau sowenig Programm wie beim Vortrag. Wir senden nur Augenfutter.

Und diese Bilder werden oft genug noch nicht mal verstanden, weil es keiner erklärt. Denn – und das ist bei solchen besonderen Sachen wie den Krawallnächten zu sehen – der Livestreamer ist mit streamen beschäftigt. Und beschreibt meist vor allem, was wir eh schon sehen. Und er schaut hektisch nach neuem optischen Futter – nicht nach Inhalt. Er ist ja live. The Show must go on.

Schaut euch die Streams von Hamburg und G20 daraufhin nochmal an.  Und genau das, das ist nicht die Idee von Programm machen.  Nicht die Idee von Journalismus. Es ist maximal Kamera-Mann (oder Frau) Arbeit. Und bevor jetzt gleich alle auf mich losgehen: Nein, auch wir machen das beim Digisaurier und bei intelligente-welt.de noch nicht konsequent genug. Dabei haben wir Digisaurier schon bei Clemens Wilmenrod, dem ersten großen erfolgreichen Fernsehkoch und seinen Nachfolgern gelernt, dass das so nicht geht. Schon gar nicht bei Live-Journalismus.

Kochsendungsweisheit: Ich hab da mal was vorbereitet! Jaaaa!

Die Digisaurier Christian Spanik und Martin Goldmann mit einer Livesendung von der CeBIT
Programm machen – das ist der Job der Presse. Auch beim Livestream

Es gibt eine „Weisheit“ die schon diese alten Fernsehköche in den alten Medien drauf hatten. Die Erkenntnis, dass niemand einem Braten beim gar werden zuschauen mag. Und das sorgte dafür, dass man zwar alles zeigte bis zum Moment wo der Kram in den Ofen kam.  Aber  – eben schon einige Zeit vor der Sendung – hatte man eine Double ins Rohr geschoben, sodass man das Ergebnis zeigen konnte, ohne eine Stunde die Zuschauer mit langweiligen Bildern und mühsam gezimmerten Kommentaren über die Strecke zu führen, bis das Ding soweit war.

Und diese Idee war nicht nur in analogen Zeiten der Endlichkeit der Sendezeit geschuldet. Sondern auch der simplen Tatsache, das da im Ofen zwar was passierte – das aber nicht berichtenswert war. Und dass man heute mittels Virtual-Reality die Backtemperaturen an jeder Ecke vom Braten im Detail zeigen kann, das ganze als Timelapse mit der GoPro filmen und sogar technisch anhand einer Animation deutlich machen könnte, was nun genau im Backofen passiert, das würde vielleicht bei der ersten Sendung noch „interessant“ sein. Aber bei den folgenden wohl nicht mehr.

Der Mut zur Lücke im Livestream kann Programm machen

Der Mut den Stream zu unterbrechen, bis man wieder ernsthaft was zu melden hat, wäre gerade in solchen Handy-Livestream-Situationen wichtig. Das ist eine Entscheidung, die hat min Journalismus und dem journalistischem Arbeiten zu tun. Aber da schwingt die Angst mit:

„Jetzt hab ich gerade 500 gleichzeitig… Wenn ich jetzt abbreche sind die weg…“

Die Angst des Livestreamers vor der Unterbrechung

Ein Kollege hat das übrigens auf seine Art anders gemacht. Er hat die Kamera eigentlich ganz falsch gehalten in bestimmten Momenten. Und genau darum exakt richtig.

Ich film dann mal den Asphalt – die kluge Entscheidung des TAZ-Reporters  Martin Kaul

Hier einer seiner Livestreams aus der Nacht – mit dem Mut den Asphalt zu zeigen, statt irgendwelche Menschen oder brennende Dinge von denen er nichts wusste.

Der Martin Kaul hat getan, was richtig war, was Journalismus auch ausmacht: er hat klar gemacht. Im Moment gibt es nix zu sehen. Er filmte beim Livestream wirklich phasenweise den Asphalt, während er selber rumlief.

Zum einen um Menschen zu schützen, die sonst ins Bild geraten wären und von denen er nicht hätte sagen können, ob denen das recht ist bzw. warum die da waren. Journalsmus ist auch Verantwortung. Er lief übrigens auch nicht. Er ging. Ruhig und möglichst gelassen, damit er sich darauf konzentrieren konnte was passiert und was er sinnvolles zeigen und sagen konnte. Journalismus gerade in solche Situationen ist auch: Ruhe bewahren.

In der Zeit des Livestreams erzählte er häufig was zu Hintergründen oder Erfahrungen. Aber nur das, was er konnte. Das war aber einiges, weil er Demo-erprobt ist und mit seiner Erfahrung von vielen Berichten von Demonstrationen Dinge einschätzen und erklären konnte. Und wenn er es nicht wusste, sagte er es oder bat sogar Zuschauer: wisst ihr was? Dann postet einen Kommentar oder Link, war seine einfache Bitte. Kurz er machte Programm mit seinen Möglichkeiten. Aber er machte es und ließ nicht einfach nur Dinge geschehen. Journalismus.

Noch ein Detail: er sagte mehrfach, dass das übrigens so die ersten Male sind, die er einen Livestream macht und er hofft er macht nix falsch. Mein Gedanke als er das fragte: Nein! Wer Programm macht, weil er es gestaltet macht zumindest was unser Handwerk betrifft, alles richtig. Auch und ganz besonders im Livestream.

Also: lasst uns wieder mehr Programm machen. Und weniger passieren lassen.

Frage an den Sender – leider unbeantwortet…

„Ganz ehrlich – was bringt das für Information? Das Bild im Livestream gerade eben: Gaffer gucken rein, ihr als Sender auch…“

Digisaurier Frage im Livestream, die nie beantwortet wurde…

Kommentare? Meinungen dazu? Wie seht ihr das? Wir freuen uns hier oder auf Facebook über eure Anmerkungen.

Zum Thema Medien und Online hätten wir auch noch ein paar andere Artikel und Videos. Zum Beispiel die hier:

Raus aus Facebook?

Raus aus Facebook? Wir wollen reden.

Zeitfresser Facebook: Wie ich Social Media besser nutzen will

WEBVIDEOPREIS: MARMELADEN-OMA KOCHT WEBVIDEOSZENE EIN

UPDATE 12.07:

Ein Artikel der ein paar handfeste Tipps für Livestreamer gibt und worauf mach achten sollte ist der von Gerhard Schröder, den ich hier verlinkt habe.

Auf Facebook entstand eine Diskussion, bei der offenbar der Eindruck entstand, ich wollte sagen, nur Profis sollen Livestreams machen. Nein, das war nicht mein Gedanke! Genau darum habe ich den Kollegen von der TAZ explizit erwähnt (Eigeneinschätzung: Anfänger) und gesagt: die meisten Medien – ob große, kleine, alte oder neue – haben sich in diese Falle begeben. Hier der Link zu dem Facebook-Post.

 

 

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