In diesem Interview nimmt uns ein Commodore-Insider mit auf eine Tour hinter die Kulissen, die einen manchmal sprachlos macht. Er war ein junger Buchhalter in den wilden 80ern bei einem der spannendsten Computerunternehmen der Welt. Commodore. Er liebt die Produkte, bewundert die Technik – und dann entdeckte er, dass eine simple Plastikplatte mit ein paar Löchern plötzlich 2000 Mark kostet statt 800 wie ihre Vorgänger. Mit ansonsten genau der gleichen Funktion. Was würdet ihr tun? Guido Mette musste eine Entscheidung treffen. Seine Geschichte zeigt die andere Seite der Goldgräberzeit, als alle Computer-Pionier sein wollten und manchmal vergaßen, dass auch bei den coolsten Tech-Firmen Grundregeln gelten sollten. Eine wilde Geschichte, die so in der Form nicht nur bei Commodore passierte. Es waren die wilden Jahre. Kommt einfach mal mit…
Die 80er und frühen 90er waren eine verrückte Zeit in der Computerbranche. Jeder wollte dabei sein, alles ging wahnsinnig schnell, und manchmal vergaß man dabei die Grundlagen solider Unternehmensführung. Guido Mette hat diese wilde Ära bei Commodore Deutschland hautnah miterlebt – als Buchhalter, der plötzlich Werkzeug-Rechnungen sah, die ihn ins Grübeln brachten. Seine Geschichten zeigen die Kehrseite einer Zeit, die wir heute nostalgisch verklärt in Erinnerung haben. Es war eben nicht alles Boing Ball und Guru Meditation. Und manchmal kosteten simple Plastikplatten für die Fertigung auch mal eben 1200 Mark mehr als nötig.
Ein besonderer Hinweis: Persönliche Erinnerungen und Glaubwürdigkeit
Wenn man wie wir bei Digisaurier.de mit Zeitzeugen spricht, kann man unmöglich alles nachprüfen. Oft sind es ja persönliche Eindrücke und Erinnerungen. Die auch durchaus mal falsch im eigenen Gedächtnis sein können. Oder nicht über weitere Quellen verifizierbar. Darum schauen wir immer vorher, wie glaubwürdig der Interview-Partner insgesamt ist. Bei Guido war es – vor allem wegen der besonderen Einblicke in die Finanz-Aktivitäten von Commodore – besonders komplex. Wir haben uns aber beim Interview (Ihr könnt es in seiner gesamten Länge bei uns auf dem Youtube-Kanal selbst hören und sehen) einen Eindruck von Guido machen können. Er ist kein anonymer Whistleblower, sondern sagt wer er ist und er ist sehr präzise in seinen Erinnerungen. Darum halten wir das auch für glaubwürdig, was er uns erzählte. Er hätte ja nichts davon, einfach nur wilde Geschichten zu erfinden. Das nur als Vorbemerkung für dieses spezielle Interview – aber auch für alle anderen Interviews die wir hier mit Zeitzeugen führen. Wenn ihr selbst Erinnerungen habt oder andere Sichtweisen der Geschichte erzählen könnt, dann macht das gerne in den Kommentaren. Die einzige Bitte: Macht das respektvoll und mit einer sachlichen und wertschätzenden Wortwahl.
Eure Digisaurier
Der Werkzeug-Krimi: Eine 30×30 Zentimeter große Überraschung
Die Geschichte beginnt so alltäglich, wie Büro-Anekdoten eben beginnen. Guido sitzt Ende der 1980iger Jahre in seinem Büro in Braunschweig und bearbeitet Rechnungen für Anlagengüter. Eigentlich Routine – bis ihm eine Rechnung ins Auge fällt.
„Ich bekam eine Rechnung für ein Werkzeug“, erzählt er mir auf der Amiga-Bühne. „Meine Aufgabe war es, solche Anlagengüter zu erfassen.“ Mit Werkzeug meinte man bei Commodore zum Beispiel Vorrichtungen und Halterungen, die in der Produktion gebraucht wurden – etwa um Platinen während der Fertigung zu positionieren.
Soweit, so normal. Aber dieses spezielle Werkzeug gab es bereits mehrfach in der Produktion. Die alten Exemplare hatten 800 Mark gekostet. Dieses neue sollte nun 2000 Mark kosten.
Als ordentlicher Buchhalter wendet sich Guido an einen Verantwortlichen aus der Produktion. „Was ist hier so besonders? Das es 1200 Mark mehr kostet?“, wollte er wissen. Die Antwort kam schneller als erwartet und fiel kürzer aus als gedacht. Statt einer Erklärung bekamt Guido nur die Info, man hätte die Rechnung freigegeben. Und damit wäre Alles gut und „…es hätte schon alles seine Richtigkeit.“
Aber Guido blieb hartnäckig. Er ging direkt zur Quelle – in die Werkstatt. „Zeig mir mal dieses Werkzeug“, bat er einen der Kollegen dort. Was er dann zu sehen bekommt, ist fast schon komisch: „Der Kollege holt eine Platte raus. 30 mal 30 Zentimeter groß, ein paar Zentimeter dick, mit ein paar Dübeln drin. Hier und da ein paar Löcher. Was macht ihr damit?“ Die Antwort: „Platinen drauflegen.“ „Okay – aber 2000 Mark. Für so ein Plastikstück. Echt?“

Der Produktionsmitarbeiter hatte sogar Humor: Mit einem Augenzwinkern prophezeite er Guido wohl damals, dass die gleiche Platte bald sicher 4000 Mark kosten würde, wenn man einen „Modellwechsel“ mache. Das identische Stück für die Produktion war früher aus Holz. 30 mal 30 Zentimeter, Löcher, Halterungen – aber nur 800 Mark.
„Ein simples Stück Plastik mit ein paar Löchern ist also 1200 Mark teurer als das Holz-Pendant?“ frage ich. Guido zuckt die Schultern und nickt. So hatte man es ihm gesagt.
Goldgräberstimmung: Wenn alles schneller geht als die Bürokratie
Was Guido damals erlebte, war typisch für die wilde Zeit der Computer-Pioniere. „Als Commodore in Braunschweig angefangen hat, da liefen die Gehälter, die Gehaltszahlungen und auch die Zahlungen aller Lieferanten über ein Konto, nämlich das private Konto der Sekretärin des Chefs.“
„Die hatten kein Konto?“, frage ich erstaunt.
„Noch nicht. Das dauerte ja alles so ein bisschen, bis die Firma eingetragen war und so weiter. Und wenn man immer schneller ist als die Realität, dann entsteht eine solche dynamische Struktur.“ An Guidos Gesicht lässt sich ablesen, wie er als junger Buchhalter das alles fand. Nicht nur dynamisch…

Aber diese Geschichte fasst die Ära perfekt zusammen. Alle wollten dabei sein, alle wollten die nächste große Sache nicht verpassen. Verwaltung? Ja – später! Firmengründungen über Nacht, Geschäfte auf Zuruf, Strukturen, die hinterherhinkten. „Das Alles gibt natürlich vielen Menschen die Möglichkeiten, einfach mal kreativ zu werden“, sagt Guido diplomatisch. Und meint damit auch die Finanzen, die Bestellungen und alles was drumherum so passiert.
Sicherlich war vieles in diesem „kreativen“ Umgang mit Geld vor allem von einem Punkt geprägt: Lass uns die Dinge hinkriegen, die wir uns vorgenommen haben. Die Projekte umsetzen. Den Leuten Freiraum geben. So wie damals sicherlich Gerald Lang das einzig Richtige gemacht hat, als er zum ersten Mal als Abgesandter von Frankfurt nach Braunschweig kam. Er lud erstmal die Mannschaft aus der Entwicklung zum großen Essen ein – und machte sich erst nachher Gedanken über die Höhe der Rechnung. Die Geschichte könnt Ihr übrigens hier nachlesen:
Die Kette der Verdrängung: Wenn keiner genau hinsehen will
Was dann passierte, als Guido seine Entdeckung meldete, zeigt das eigentliche Problem der Zeit. Alle waren froh, dass es lief. Keiner wollte genau hinschauen. Guido ging zur Assistentin des Chefs. „Komm – wir gehen direkt zum Chef.“, war ihr Kommentar.
Im Chefbüro lief es dann fast schon erwartungsgemäß in diesen Zeiten: Die die sich auskennen haben die Rechnung freigegeben, bekam Guido zu hören. Also habe er aus der Buchhaltung das fachlich nicht in Frage zu stellen. Kurz gesagt: Alles sei in Ordnung.
Zum Glück hatte Guido einen aufgeschlossenen direkten Vorgesetzten. Als er ihm die Geschichte erzählte, schaute der ihn mit großen Augen an. „Wenn man das erzählte, waren die Augen wie bei Kinder zu Weihnachten. Groß und pures staunen.“, erinnert sich Guido. „Mein Vorgesetzter sagte nur: ‚Spinnen die jetzt alle?'“ Denn er hatte anhand der Gesamtzahlen schon länger vermutet, dass etwas nicht stimmte. Aber er hatte keine konkretes Beispiel. Das hatte der junge, gründliche Buchhalter nun gefunden.
Böse Absicht der Kollegen vor Ort? Vermutlich eher nicht. Es war die Zeit, vermute ich auf der Bühne im Gespräch mit Guido und frage ihn das auch: „War das einfach diese wilde Zeit, wo alle alles durften?“, hake ich nach. „Hauptsache, man hatte Spaß und konnte die Geräte verkaufen?“

Guido wiegt den Kopf. Irgendwie wohl schon – und wie gesagt: Solche Geschichten gab es damals oft. Überall in der Branche. Aber solche Unregelmäßigkeiten hatten natürlich Konsequenzen. Egal ob absichtlich oder aus Versehen…
Der Preis des Chaos: Millionen im Nebel
Die Nachfrage nach dem Schaden zeigt das ganze Ausmaß: Die Summe die so als Schaden entstand könne siebenstellig oder sogar achtstellig gewesen sein, schätzt Guido heute. „Man konnte es einfach nicht mehr genau ermitteln.“
Aber das war nur ein Teil des Problems. Da kam der Betriebsprüfer mit Nachzahlungen von 100 Millionen Mark. Gleichzeitig wurde eine Finanzierung über weitere 100 Millionen fällig. Dazu noch diese Ansammlung von – wie Guido es vorsichtig formuliert – „unklaren Handlungen“ – eben auch schnell in Millionenhöhe. Und das alles in einer Zeit, in der plötzlich jeder PCs verkaufte. „Ich glaube, mein Bäcker war der einzige, der keine angeboten hat“, sagt Guido mit einem leichten Lächeln.
„Stimmt – in der Zeit kamen ja Aldi und Co mit Hardware“, werfe ich ein.
„Genau. Aber finanziell heißt das: gigantischer Preisverfall und damit weniger Profit für das Unternehmen bei gleichzeitig immensem Kapitalabfluss. Das kann kein Unternehmen dauerhaft verkraften.“
Von Amiga-Liebe und Buchhalter-Leben
Das Bitterste an der Geschichte: Guido war selbst ein echter Computer- und später Amiga-Fan. „Ich habe damals in Völkner-Katalogen einen CBM 8296 gesehen und dachte nur: Das Ding will ich haben. Keine Ahnung, was man damit macht – aber das wollte ich einfach haben.“ Später folgte der C64: „Das war auch eine Wahnsinnszeit. Der war so modifiziert dass man verschiedene Betriebssysteme mit einem Schalter auswählen konnte.“
Und schließlich folgte der erste Amiga 500: „Den konnte ich mir gerade noch leisten. Aber der war mir natürlich zu wertvoll, um ihn aufzuschrauben oder Löcher reinzubohren, wie wir das beim C64 gemacht hatten.“
Die Ironie der Situation ist perfekt: Hier ist ein Mann mit mir auf der Bühne, der die Produkte seines Arbeitgebers liebte – und dann musste er damals dabei zusehen, wie das Unternehmen durch interne Strukturprobleme ins Trudeln gerät.

Heute arbeitet Guido als freier Interimsmanager und profitiert noch immer von seiner Commodore-Zeit. „Das hilft mir auch immer wieder Projekte im IT-Kontext zu bekommen.“ Wichtiger aber sind ihm die strukturellen Lehren: „Ich bin so dankbar, dass ich die ganzen Fehler der Vergangenheit sehen konnte und erleben, damit ich heute weiß, wie man die meisten umschifft.“
Epilog: Die wilde Zeit verstehen
Guidos Geschichte zeigt eine Seite der Computer-Goldgräberzeit, die bei all der berechtigten Nostalgie oft vergessen wird. Es war eine Zeit der großen Träume und schnellen Entscheidungen – aber eben auch eine Zeit, in der grundlegende Unternehmensstrukturen manchmal übersehen wurden. Bei vielen der Unternehmen und das auch international. Daran muss man denken, wenn man sich die Geschichte des Aufstiegs aber auch des Niedergangs von Commodore ansieht.
Betrachten muss man das ganze aber auf jeden Fall differenziert, finde ich, als ich jetzt beim aufschreiben über dieses Interview nachdenke. Es war eine Mischung aus Zeitgeist, Unwissen, Gelegenheit und manchmal wohl auch bewusster Grenzüberschreitung. Die Computerbranche wuchs schneller, als ihre Strukturen mithalten konnten.

Und trotzdem entstanden in dieser chaotischen Zeit Computer wie der Amiga, der uns noch heute begeistert. Computer die es vielleicht ohne all das Chaos nie in den Markt geschafft hätten. Vielleicht braucht Innovation anfangs auch ein bisschen Chaos – selbst wenn am Ende Menschen wie Guido die Scherben zusammenkehren müssen.
Was bleibt, ist eine lehrreiche Geschichte über eine Zeit, die gleichzeitig faszinierend und erschreckend war. Und die Erkenntnis, dass manchmal simple Plastikplatten mit ein paar Löchern mehr über ein Unternehmen aussagen als alle Hochglanz-Broschüren zusammen.
Hier könnt Ihr das Original-Interview mit Guido Mette selbst sehen und hören.
Kennt ihr noch andere Geschichten aus der wilden Zeit der Computer-Industrie? Oder habt ihr selbst erlebt, wie schnelles Wachstum zu ungewöhnlichen Problemen führte? Was sind Eure Erinnerungen an diese wilden 80iger? Erzählt es uns in den Kommentaren!