Geschichten eines Spielers in World of Warcraft

Als ich den Weg hinunterlief nach Menethil begegnete mir ein Zwerg. Er war freundlich, wir kamen wir ins Gespräch. Und irgendwann fragte mich der Mensch hinter dem Zwerg, wie alt ich sei. „43“ antwortete ich wahrheitsgetreu. Kurzes Schweigen. „Und dann spielst Du noch?“

Das war 2008. Und, ja, ich spiele immer noch. Ok, wer mich kennt weiß: Ich habe als Spieleredakteur angefangen. 1988. Obwohl. Nein, nicht ganz. Ich wollte als Spieleredakteur anfangen, bin dann aber erst einmal zu einer seriösen PC-Zeitschrift gegangen, der PC-Plus. Erst nach einem halben Jahr ging es weiter zur Powerplay. Damals mit Heinrich Lenhardt, Anatol Locker, Michael Hengst und Henrik Fisch. 

Damals bei der Power Play.
Damals bei der Power Play.

Für Geschicklichkeitsspiele war ich zu ungeschickt, aber bei Rollenspielen und Strategiespielen fühlte ich mich wohl. Bei den Rollenspielen bin ich denn auch geblieben – obwohl es mich nach einem dreiviertel Jahr Powerplay dann doch wieder zu Datenbanken und Textverarbeitungen zurück gezogen hat. Für Spieletests fehlte mir vielleicht der nötige Ernst, ganz sicher aber die Geduld.

Gespielt habe ich dennoch immer wieder und gerne. Civilization, Baldur’s Gate, Need for Speed. Im Sommer 2006 habe ich dann in World of Warcraft hineingeschnuppert – und bin bis zum Frühjahr 2014 dabei geblieben.

Was fasziniert so an World of Warcraft?

Was hat mich so lang in World of Warcraft gehalten? Heute glaube ich: es sind die Geschichten in WoW und die Leute, mit denen man spielt.

World of Warcraft erzählt jede Menge kleiner Geschichten, an denen die Spieler beteiligt sind. Meist geht es um große, böse Tyrannen-Schrägstrich-Monster-Schrägstrich-Drachen . Die fallen über das Land her wie eine Plage, senden ihre Schergen aus, metzeln kleine pelzige Wesen nieder und sind im Großen und Ganzen miese Typen.

Spielerin und Spieler stellen sich den Schergen entgegen, metzeln zurück und stehen irgendwann vor dem großen Schrägstrich, um ihn ein für alle Mal in die ewige Verdammnis zu schicken (aus der das Monster jederzeit wieder zurück kehren kann, wenn es die Storyline so will).

Die Hintergrundgeschichte von World of Warcraft geht weitaus tiefer. Jedes Volk hat seine Geschichte, jedes Dorf, jede Mine, jeder noch so kleine Drache. Dummerweise haben mich diese Geschichten nie interessiert, ebenso wenig wie die Quests.

Oh weh, Quests. Man kommt nicht weiter ohne diese Arbeitsaufgaben im Spiel. Meist beschränken sie sich auf „töte diese zehn Monsterhasen“ oder „sammle 20 von diesen Zauberkirschen, die zuvor durch den Verdauungstrakt einer Antilope gewandert sind“. Ich fand Quests immer fürchterlich langweilig und selten amüsant. Ausnahmen wie die Quest, in der man Zutaten für „Crunchy Frog“ sammeln soll bestätigen die Regel.

Aber welche Geschichten haben mich dann bei WoW gehalten?

Die Geschichte meiner Spielfigur

Es sind es eigenen kleinen Geschichten, die man mit seiner Spielfigur erlebt. Denn die Figur entwickelt sich weiter, lernt neue Fähigkeiten, wird mächtiger. Und als Spieler entwickle ich mich mit. Anfangs sind meine Frau und ich mit unseren beiden Zwergen ahnungslos durch die WoW-Lande getorkelt.

Ich spielte damals einen Paladin – es sollte ein mächtiger Ritter sein, so wie ich den Paladin aus dem Offline-Rollenspiel AD&D kannte. Glitzernde Rüstung, mächtige Stärke. Doch was hatte ich? Ein armes Zwergenwürstchen, das gerade mal sein Zweihandschwert halten konnte und dessen mächtigster Zauber eine Schutzhülle war. Die machte den Paladin genau so lange unverwundbar, dass er sich aus der Gefahrenzone nach Hause teleportieren konnte. Spötter nannten den Schutzzauber „Angstblase.“ Also nix mit „mächtiger Krieger“. Selbst Eichhörnchen waren gefährliche Gegner.

Paladine hatten nicht viele Fans. Nur sich selbst.

Und so torkelten meine Gattin mit ihrem Priester und ich mit meinem Paladin ein halbes Jahr durch Wälder, überwanden die Gegner quälend langsam, bis wir auf eine Diebin und einen Zauberer trafen, die uns ein paar Dinge erklärten.

Oh, man kann sich spezialisieren? Oh, es gibt Talente, die tatsächlich Auswirkungen haben? Oh, Eichhörnchen sind gar nicht so gefährlich? Ach sooo herum muss man das Schwert halten… Das kommt davon, wenn man prinzipiell nie ein Handbuch liest.

Die erste Gilde

Mit unseren beiden Lehrmeistern fanden wir zu unserer ersten Gilde zusammen. Gilde? Klingt nach Verschwörung und geheimnisvollen Ritualen. Ist aber nichts davon. Eine Gilde ist lediglich ein Zusammenschluss von Spielerinnen und Spielern. So wie ein Fussballverein. Gemeinsame Ziele, Geselligkeit und gemeinsames Spielen sind der Zweck solcher Gilden.

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Ein Paladin, ein Zwerg, ein Rosa…

Mein Paladin wurde mächtiger, er lernte dazu – und ich lernte auch endlich, wie meine Spielfigur funktioniert, ich lernte im Team zu spielen. Jetzt fing das Spiel an, Spaß zu machen.

Zu fünft stolperten wir fürderhin durch Dungeons – geheimnisvolle Höhlen oder Burgruinen voller Monster und Schätze.

Das Teamplay

Teamplay, genau das war es. Gemeinsam mit anderen spielen, sich absprechen, koordinieren. Gemeinsam scheitern und siegen. Aufeinander aufpassen. Zu jener Zeit war das Spiel noch einen Tick schwieriger als heute und man musste seine Rolle gut spielen.

Meine Rolle war die des Tanks – das ist eine gut gepanzerte Spielfigur, die ihre Rübe hinhält. Die Monster sollen ausschließlich auf den Tank einprügeln – damit der Rest der Gruppe ungestört seine Arbeit erledigen konnte.

Die Rübe hinhalten - das war der Job meiner Spielfigur.
Die Rübe hinhalten – das war der Job meiner Spielfigur.

In einer guten Gruppe tut alles nicht so weh. Denn es gibt Heiler, der sich mit allerlei Zaubern um das Wohlergehen der anderen Spielfiguren kümmern, gelegentlich auch um das des Tanks, kurz bevor er in seinem Blut davon schwimmt. Und es gibt die Schadensausteiler. Die sorgen dafür, dass die Monster auch mal umfallen.

Teamplay war wichtig, gute Absprachen notwendig. „Also, ich werfe meinen Zauberschild auf diese drei Echsen da, sobald sie kommen, verwandelst Du eine in ein Schaf, ich nehme die zwei anderen, betäube eine für sechs Sekunden, derweil…“

„…“

„Ok, warum sind wir jetzt alle tot?“

Taktische Absprachen waren das A und O damals in WoW. Und je besser wir wurden, desto öfters überlebten wir. Manchmal brauchten wir drei Stunden, um einen Dungeon zu absolvieren. Manchmal überlebte nur einer und rang den Gegner in einem zähen Kampf nieder – die anderen konnten derweil was essen gehen. Manchmal führte uns die eigene Dusseligkeit sofort in den Abgrund.

Ach so  – sterben ist in World of Warcraft nicht so schlimm. Man erwacht in einer Geistergestalt auf dem Friedhof, geht zu seiner Leiche und startet von Neuem. Das einzige Problem ist, den eigenen Korpus wieder zu finden. Das kann dauern.

Die zweite Gilde

Irgendwann zog es mich zu höherem. Ich wollte mit den großen Kindern spielen. Ich wollte raiden.

Ein Raid? Das ist so etwas wie ein Dungeon, nur mit 10, 25 oder 40 Spielern. Die Zeit mit den 40 Spielern habe ich leider nicht mehr aktiv erlebt aber auch mit 25 Leuten kann man eine Menge Spaß haben.

Also verließ ich meine Gilde und suchte mir eine Neue. Über ein paar Ecken fand ich Kontakt zu den „Protectors of Moonglow“ – den Hütern des Mondscheins. Dort bewarb ich mich. Der Gildenleiter, Merrie, war ein mächtiger Krieger. Ein Gnom. So klein, dass ich ihn beim ersten gemeinsamen Spiel schlicht nicht finden konnte im Monstergewimmel.

Trotzdem nahm mich die Gilde auf und fortan zogen wir durch furchterregende Gewölbe. Das schwierigste an der neuen Gilde war die Verständigung. Die lief über eine Art-Internet-Funk, Teamspeak genannt. Einer sprach, alle hörten zu – oder alle sprachen, niemand hörte etwas.

Doch nicht Teamspeak war das Problem bei der Verständigung. Das Problem war, dass ich nicht wusste, was ein „Ferdl“ war, was genau „Häusl“ bedeutet und wieso der Tank den „Ferdl“ hier zu dem „Häusl“ da ziehen musste. Und warum er ein „Wappler“ war, wenn er es nicht schaffte. Spoiler: Es hatte nichts mit Pferden und Häusern zu tun und mit Wappen auch nicht.

Genau, der Großteil der Gildenmitglieder stammte aus Wien. Die Sprachbarriere war hoch – nicht nur, weil „Stuhl“ in Österreich etwas ganz anderes bedeutet als Sitzgelegenheit. Der Stuhl heißt nämlich Sessel. Doch nach ein paar Wochen hatte ich mich eingewöhnt. „Ferdl“ war im Spielkontext irgendeine Figur. „Häusl“ auch, nur klang das etwas abschätziger und der „Wappler“ durfte sich als Versager fühlen.

Raids und ihre Leiter

So ein Raid mit 25 Leuten kann eine Menge Spaß machen – wenn man nicht gerade der Spielleiter ist. Denn der muss sich selbst und 24 andere Spieler koordinieren. Ein Job, der an die Nerven geht und manch einen zur Verzweiflung bringt. Ich habe Raidleiter erlebt, die sich nur noch brüllend und schimpfend verständigt haben. Nicht gerade ein gutes Betriebsklima.

Bei den „Protectors of Moonglow“ war das anders. Merrie heißt im echten Leben Markus, stammt aus Wien und ist Doktor der Chemie. Und es brachte ihn fast nichts aus der Ruhe. Nur wir. Ein bisschen. Aber Markus schrie nie herum. Er seufzte – „geh bitte“. Und einmal, als wir wirklich wiederholt Mist gebaut haben, kam der legendäre Wutausbruch „Bursch’n, Ihr geht’s mir so am Oasch“. Davon erzählen wir einander bis heute am Lagerfeuer.

Aber ganz ehrlich: Genau dieser ruhige, freundliche und respektvolle Umgang untereinander hat mich so lange im Spiel gehalten. Das lag vielleicht auch daran, dass wir alle schon ein wenig älter waren und honorige Doktoren, Beamter oder Informatiker.

Ein Paladin in Rente

Die Gegner wurden mächtiger. Wir mussten uns besser im Team koordinieren. Und ich bekam Probleme mit meiner Spielfigur. Mir fehlte – naja – ein wenig der Überblick. Meine Fehler häuften sich, der Spaß am Spiel ging verloren. Da fasste ich einen Entschluss: Mein Zwergenpaladin ging in Rente. Er hatte genug Keile eingesteckt. Jetzt sollte er Zeit bekommen, seine Rüstung auszubeulen und sich bei Zwergenbier in der Festung Ironforge zu erholen.

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Sieht nicht so schick aus wie ein Zwerg – aber das ist egal, so lange das Spielen Spaß macht.

Auf den Plan trat Affinity. Eine Schamanin. Eine Heilerin. Blau. Genau: Jeder Spieler kann in WoW beliebig viele Spielfiguren haben, allerdings können die sich nicht gleichzeitig im Spiel befinden. Während sich der Paladin also im Ruhestand die Hucke voll soff, musste Affinity rackern.

Das Heilen hat Spaß gemacht. Ich stand nicht mehr ganz vorne, um mich verhauen zu lassen. Ich stand irgendwo hinten auf dem Spielfeld, wo es ruhiger war. Und ich sah plötzlich mehr, als irgendwelche Riesen-Dämonenbäuche.

Digisaurier Martin mit seinem WoW-T-Shirt.
Digisaurier Martin mit seinem WoW-T-Shirt.

Bald war klar: Ich bleibe Heiler. Der Spaß am Spiel war wieder da und irgendwie passte diese Rolle besser zu mir – logisch, nach 12 Jahren im Rettungsdienst.

Beim Heilen in WoW fällte ich Entscheidungen im Sekundentakt . Wen heilen? Wie stark soll die Heilung sein? Wer kommt als nächstes auf die Liste? Kasse oder Privatpatient? Wichtig waren die Entscheidungen auch deshalb, weil ich als Heiler nicht unendliche Ressourcen hatte. Irgendwann war das Mana alle und dann ging nichts mehr mit heilen. Das ist so ähnlich wie beim Radfahren: Irgendwann ist die Trinkflasche leer und dann rollt es nicht mehr lange weiter.

Mehr Geschichten

Meine Spielfiguren hatte ihre Geschichten und die sechs Jahre gemeinsam mit den Hütern des Mondscheins stecken voller vieler kleiner Anekdoten, die wir einander immer wieder erzählen. Da höre ich auch die Geschichten aus grauer Vorzeit, als die Gilde noch ohne mich in Ultima Online und in Everquest unterwegs war.

Manchmal sieht man als Spieler nur die Füße oder Bäuche der Gegner.
Manchmal sieht man als Spieler nur die Füße oder Bäuche der Gegner.

So wird es auch weiter sein – wir werden einander auch weiterhin sehen, einmal im Jahr sammeln wir uns hinter Wien um um ein Lagerfeuer. Und wenn es da nicht klappt, treffen wir uns bei Franziska und mir zum Christkindlmarkt in Nürnberg. Und gelegentlich sehen wir nach, ob der Mond noch scheint.

Oh, ein paar Geschichten habe ich noch, nämlich die, die sich um WoW an sich ranken. Das Spiel inspirierte Comic-Zeichner zu Figuren wie Shakes & Fidget oder zu den Dark Legacy Comics, die allerdings eher was für Insider sind.

Hörspiele und Filme wie Allimania begeisterten die Spieler-Szene und manche im Spiel aufgenommenen Videos wurden zur Legende: Leroy Jenkins zum Beispiel, jener furchtlose Held, der sich in die Schlacht stürzt noch während die anderen Raid-Teilnehmer langwierig über der Strategie brüten. (Ungeduldige bitte bis 1:20 vorspulen – aber glaubt mir, solche Beratungen konnten auch mal eine halbe Stunde dauern.)

Der Schlachtruf „Leeeeeroy Jenkins“ wurde berühmt. Leroy Jenkins bekam seinen Platz im Spiel. Er wird nun selbst Teil der Geschichte in World of Warcraft.

Die Geschichte ist auserzählt

World of Warcraft war fesselnd. Doch mit den Jahren wiederholte sich vieles. Die Welt änderte sich und irgendwann war der Dampf raus. Meine erste längere Pause habe ich 2011 genommen. In den Jahren darauf machte ich mich meist im Sommer rar und im letzten Jahr wollte ich gar nicht mehr. Das Spielprinzip hat sich erschöpft.

Im März 2015 fiel dann der Vorhang. Ich habe das Spiel verlassen, nicht aber die Protectors of Moonglow. Denn dort habe ich Freunde gefunden, denen ich im echten Leben und in anderen Spielewelten gerne wieder begegne.

Addendum August 2020: Lang bin ich dem Spiel nicht fern geblieben. Seit 2016 spiele ich gelegentlich wieder. Aber nicht mehr mit so viel Ehrgeiz wie früher.

5 Gedanken zu „Geschichten eines Spielers in World of Warcraft“

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