Gary und Dorothy Kildall, die Digital-Research-Gründer

Computerhelden (5): Gary Kildall, das missverstandene Genie

Nachdem Gary Kildall seine Firma Digital Research für kolportierte 120 Millionen Dollar an Novell verkauft hatte, pflegte er ein Leben im Luxus seiner Hobbys und Leidenschaften. Leider gehörte dazu auch die Vorliebe für den Alkohol. Und die brachte ihn letztlich im Alter von nur 52 Jahren um. In welchem Zustand er am Abend des 11. Juli 1994 in der Franklin Street Bar & Grill in Monterey auftauchte, ist nicht bekannt. Wohl aber, dass er mit dem Motorrad vorgefahren war und Lederklamotten mit Harley-Davidson-Schriftzug trug. Ob er nun vom Stuhl gefallen, eine Treppe hinabgestürzt ist oder von Biker- oder Harley-Hassern verprügelt wurde, weiß niemand. Jedenfalls landete er im Krankenhaus und verstarb drei Tage später an den Folgen einer Hirnblutung. Da hatte er sich – nicht ganz freiwillig – aus der Computerindustrie zurückgezogen, tief enttäuscht darüber, dass sein Wirken so wenig anerkannt wurde.

Denn letztlich denken selbst Insider bei seinen Namen vor allem an eine der zahllosen Legenden darüber, warum nicht CP/M86 das Betriebssystem für den IBM PC wurde, sondern PC-DOS aka MS-DOS. Die größte Leistung des Dr. Gary A. Kildall war nämlich die Entwicklung des ersten (funktionierenden) portablen Betriebssystems für kleine Computer: CP/M, das „Control Programm for Microcomputers“. In den von seinen Kindern Scott und Kristi veröffentlichten Ausschnitten seiner Memoiren macht er deutlich, dass es nur einen einzigen Beweggrund gab, dieses System zu entwickeln: um ungestört am persönlichen Computer programmieren und die – meist in PL/1 geschriebenen – Programme darauf zu testen und zu nutzen.

Die Idee: Ein Disk Operating System

Segen und Fluch zugleich war Anfang der Siebzigerjahre die Erfindung der Floppy-Disk als Massenspeicher für Daten. Erst mit dieser Lösung wurde der persönliche Computer überhaupt möglich. An die Bausatz-Mikrocomputer jener Zeit konnte man also ein Diskettenlaufwerk anschließen – und dann? Dann musste man per Terminal eine ganze Reihe von Instruktionen eintippen, um das Ding ans Laufen zu bringen. Was aber nicht hieß, dass man dann Zugriff auf die Daten hatte. Was uns Freunden des kleinen, persönlichen Computers über Jahrzehnte selbstverständlich vorkam, verdanken wir Gary. Und ganz besonders seiner vielleicht genialsten Erfindung – das BIOS. Das „Basic Input/Output System“, so seine Idee, sollte in die Hardware integriert auf einem ROM-Baustein stecken und automatisch starten, sobald der Computer eingeschaltet wird. Eines der Progrämmchen im BIOS diente dazu, den Computer zu zwingen, sich das Betriebssystem von der Floppy zu ziehen – „Booten“ nannte Gary diesen Vorgang.

Gary Kildall anno 1988
Gary Kildall anno 1988

Gary war Zeit seines Lebens ein Seemann – wie sein Vater und sein Großvater (und möglicherweise dessen Vorväter) vor ihm; kein Wunder stammte doch der männliche Zweig des Stammbaums aus Norwegen, während Garys Mutter Halbschwedin war. In der Familie Kildall aus Seattle drehte sich alles um die Seefahrt, und auch der kleine Gary war für ein Leben auf Schiffen vorgesehen. Deshalb verbrachte er anfangs mehr Zeit in der Seefahrtschule des Vaters als in der „richtigen“ Schule. Aber als es dann aufs College ging, entschied er sich für die University of Washington (UW) und strebte die Laufbahn als Mathematiklehrer an. Dass er dieses Fach mochte, hatte auch etwas mit der Seefahrt zu tun; schon früh hatte er gelernt, die für die Navgiation wichtigen Berechnungen ohne technische Hilfsmittel durchzuführen.

Gary, der Familienvater

Auf der UW wurde er aber bald mit der Computerei konfrontiert und sattelte auf Informatik um. In diesem Fach promovierte er 1971 nach einem kurzen Umweg beim Wehrdienst – in der Marine natürlich – und wurde so zu Dr. Gary A. Kildall. Da war er schon acht Jahre verheiratet und zweifacher Vater. Mit kaum zwanzig Jahren hatte er nämlich seine Jugendliebe Dorothy zur Frau genommen, die eigentliche Chefin des legendären Unternehmen Digital Resarch (DRI). Mit dem Business hatte es Gary nämlich im Gegensatz zu ihr nicht. Um die Familie zu ernähren, nahm er eine Stelle als Informatiklehrer an der Naval Postgraduate School (NPS) in Monterey, Kalifornien an, also wieder einem Institut für Seefahrer. Und nicht weit weg von dem, was wir heute Silicon Valley nennen.

Ehrentafel: Für Gary Kildall und seine Erfindung CP/M
Ehrentafel: Für Gary Kildall und seine Erfindung CP/M

Kein Wunder also, dass Gary zugriff, als man dort (und de facto NUR dort) die ersten Systeme mit Mikroprozessoren vom Typ Intel 4004 kaufen konnte. Auch kein Wunder, dass er das Ding programmieren wollte. Und ebenfalls kein Wunder, dass er sich das Leben leichtmachen wollte und, ja, CP/M entwickelte. Um die Geschichte etwas kürzer zu machen: Mit der Version 1.3 gründeten Dorothy und Gary 1974 die Firma Digital Research, die rasant wuchs, weil jeder Computerfreak in den USA und dem Rest der Welt CP/M haben wollte! Später ärgerte sich Gary, dass sie damals nur 70 Dollar pro Kopie nahmen, was angesichts der Preise für Software im Minicomputerbereich ein Witz war. Dass CP/M dann für ein paar Jahre DAS Betriebssystem schlechthin wurde, lag vor allem daran, dass man es mit einem passenden BIOS auf Rechnern mit allen gängigen CPUs nutzen konnte.

Bis etwa 1981 entstand so ein ganze CP/M-Welt. Ob Commodore oder Apple oder Hunderte anderer Hersteller – die kleinen Computer liefen unter CP/M. Was wiederum zur Entstehung einer Industrie der Anwendungssoftware führte. Erst ein verbreitetes DOS machte es rentabel, so etwas wie ein Textverarbeitungsprogramm zu entwickeln und zu vermarkten. Ohne Gary und sein CP/M hätte es WordStar nicht gegeben, also auch kein MS Word und so weiter. Grundlage für all die schönen Werkzeuge, die wir heute noch nutzen, war die Möglichkeit, die Ergebnisse der Arbeit als Dateien auf Datenträgern zu speichern und diese Daten verwalten zu können.

Freitagspartys in der viktorianischen Villa

Die Stars der vor allem in San Francisco, Seattle und Boston beheimateten Computerszene waren damals Maschinen wie der Altair und später der Altair-Klone IMSAI 8080. Und weil Gary IMSAI mochte, verkaufte er diesem Hersteller 1977 eine Generallizenz für 25.000 USD. Von da an ging’s steil bergauf mit DRI. Die Belegschaft wuchs, man bezog eine viktorianische Villa in Pacific Grove und feierte jeden Freitag eine mehr oder weniger ausschweifende Party. Digital Research am Ende der Siebzigerjahre war der Prototyp eines hippen Softwareunternehmens. Und dann kam der IBM PC… Eine Geschichte von Missverständnissen, um die sich gut ein Dutzend Gerüchte und Legenden ranken. Meist mit der Aussage „Gary hat’s verbockt“ und hätte eigentlich anstelle von Bill Gates Milliardär werden können.

Legendär: Der Startbildschirm eines CP/M-Systems
Legendär: Der Startbildschirm eines CP/M-Systems

Nein, Gary kann es gar nicht verbockt haben, weil er der Ingenieur war und Dorothy die Geschäftsfrau. Er selbst hat ein paar Mal ansatzweise erzählt wie es wirklich war. Tatsächlich hatte Dr. Kildall über Jahre einen Beratervertrag bei Intel und war deshalb über IBMs Pläne, einen Personal Computer zu bauen, informiert. Microsoft war um 1980 herum – das weiß kaum jemand – der erfolgreichste CP/M-Reseller und machte mit dem Betriebssystem fast so viel Umsatz wie DRI selbst. Außerhalb der Nerd-Szene dachte man daher, CP/M sei ein Produkt von Microsoft. Deshalb trat IBM an Bill Gates heran mit der Frage, ob man eine Generallizenz für CP/M von ihm haben könne. Selbstverständlich verwies Gates die IBM-Leute an DRI und empfahl, sich mit Gary und Dorothy zu unterhalten. Was auch geschah. Aber, man wurde sich nicht einig. An dieser Stelle sagt die eine von Kildall verbreitete Version, Dorothy habe die Verschwiegenheitserklärung von IBM nicht unterschreiben wollen, weil sie Angst vor möglichen Rechtsfolgen hatte; in der anderen heißt es, IBM habe nur 100.000 Dollar geboten.

Jedenfalls kam kein Deal über CP/M für den PC zwischen IBM und DRI zustande. Da pressierte es Big Blue schon ziemlich, weil man mit dem Personal Computer schnell auf den Markt wollte, um nicht noch mehr Anteile den jungen Wilden zu überlassen. Man wandte sich hilfesuchend an Bill Gates, der versprach, ein DOS zu liefern. Der stieß rasch auf das 86-DOS von Tim Paterson, einen für den Intel 8086 optimierten CP/M-Klone, und kaufte dem Programmierer aus Seattle das Teil kurzerhand ab. Später stellte sich heraus, dass das spätere PC- bzw. MS-DOS nicht bloß ein Klone war, sondern weitestgehend denselben Quellcode hatte wie CP/M – man könnte es auch eine Raubkopie nennen. Legendär, wie Gary in den späten Achtziger einmal deutlich machte, wieso er von einem Klau ausging. Sinngemäß sagte er: „Fragt doch mal Bill Gates, warum bei der String-Funktion ein $ (Dollarzeichen) als Merker verwendet wird. Er wird es euch nicht beantworten können.“ Denn, so Gary weiter, dieses Zeichen stamme aus CP/M und es gäbe eine Anekdote dazu – die er aber nie erzählte.

Das große DOS-Wirrwarr

Das ganze Wirrwar rund um CP/M, 86-DOS, PC-DOS und MS-DOS wurde nie vollständig aufgeklärt. Aber an dem Vorwurf, man habe DRI beklaut, dürfte etwas dran sein. Denn immerhin erklärte sich IBM 1983 bereit, auch CP/M-86 zu lizensieren und den PC-Käufern als Alternative anzubieten. Leider zu einem Preis, der ein Vielfaches von PC-DOS betrug. Dass es für CP/M mehr Anwendungssoftware gab als für PC-DOS irritierte die Kunden anscheinend wenig. Zumal Microsoft die Chance ergriff und sehr schnelle eine ganze Palette an Anwendungen, aber auch Programmiersprachen speziell für PC-DOS entwickelte und auf den Markt warf. Ironie dieser Geschichte: Gary ließ später bei DRI einen MS-DOS-Klone namens DR-DOS entwickeln, der MS-DOS mindestens ebenbürtig war und eine Reihe von CP/M-Funktionen enthielt, die man dem anderen DOS nie eingepflanzt hatte. Ausgerechnet dieses DR-DOS war der Grund, weshalb Novell 1991 so scharf auf DRI war, dass man Gary das Unternehmen für einen dreistelligen Millionenbetrag abkaufte.

Im folgenden Video, das die Computer Chronicles zu seinem Tod als Hommage veröffentlichten, werden noch weitere Verdienste von Gary Kildall vorgestellt. Für diese Sendung arbeitete Gary übrigens sechs Jahre lang als Moderator:

Leute, die ihm nahestanden, sagen, Gary sei jemand gewesen, der Konflikte nach Möglichkeit vermied. Statt sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren, fraß er den Frust lieber in sich hinein oder dachte sich Racheaktionen aus. Ob die Entwicklung der grafischen Benutzeroberfläche GEM der Versuch war, MS Windows zu übertrumpfen und so Rache an Bill Gates zu üben, ist nicht bekannt. Jedenfalls gelang es DRI früher als Microsoft (aber später als Apple), dem DOS eine Oberfläche überzustülpen, die es ermöglichte, die Betriebssystemfunktionen per Mausklick zu steuern. Ja, es gab eine GEM-Version für PCs, die sogar auf MS-DOS lief. Berühmt wurde dieses GEM aber, weil das Software-Team bei Atari unbedingt ein solches GUI brauchte und Jack Tramiel zustimmte, GEM zu lizensieren – wenn auch für vergleichsweise wenig Geld. Wie wir wissen ist Windows quicklebendig, während man GEM nur noch um Museum besuchen kann.

Die frustrierten Jahre

Nach allem, was man weiß, war Gary über die Entwicklungen in dern Achtzigerjahren ziemlich frustriert. Als er nach dem Verkauf an Novell zum Privatier wurde, frönte er vor allem seiner Leidenschaft fürs Fahren, Fliegen und für die Seefahrt. Er bezog – inzwischen von Dorothy geschieden – ein Irrsinns-Anwesen bei Austin, Texas, wo er in der Garage mehrere Dutzend Sport- und Luxusautos sowie Motorräder zur Auswahl hatte. Seinen Learjet flog er selbst, und an seinem Haus in Kalifornien hatte er einen Privatsee mit diversen Motor- und Segelbooten. Seine Kinder schwärmen noch heute von ihm und nennen ihn einen perfekten Dad, der auch in den intensivsten DRI-Phasen immer Zeit für sie gehabt, sich immer gekümmert habe, wenn sie ihn brauchten.

War Gary Kildall ein Computerheld? Ganz sicher. So wie wir Chuck Peddle den erschwinglichen Mikroprozessor verdanken, so verdanken wir Gary das Prinzip der Dualität aus BIOS und Disk Operating System (DOS) sowie die Idee eines Boot-Prozesses. Die Tragik seines Lebens dürfte darin bestanden haben, zur falschen Zeit auf einen harten Geschäftskonkurrenten getroffen zu sein – auf Bill Gates, der ihm als Ingenieur und Softwareentwickler nie das Wasser reichen konnte.

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