Ach, es fängt ja schon mit den Definitionen an: Was ist denn ein persönlicher und was ein Homecomputer? Funktioniert nur in der Abgrenzung zu dem, was man nach dem zweiten Weltkrieg „Elektronenhirne“ nannte. Wir digital gebildeten Menschen kennen diese Monster auch unter dem Namen „Großrechner“. Deren vordringlichste Eigenschaft ist und war, dass sie überhaupt nur von Eingeweihten bedient werden konnten und durften. Man kennt die Bilder: Ingenieure in weißen Kitteln schleichen um blinkende Schränke, Bandlaufwerke und Tasten-Terminals herum. Wer nun denkt, das Zeitalter der Computer für den Rest von uns begann irgendwann in den 70er, ist schief gewickelt. Es war der heutzutage fast völlig in Vergessenheit geratene Edmund C. Berkeley, der den ersten Homecomputer entwarf – gestatten: Simon, der erste Rechner für zuhause…
Versicherungsmathematiker und Atomkriegsgegner
Der durchlief eine für damalige Verhältnisse normale Karriere als Versicherungsmathematiker, die aber jäh unterbrochen wurde, weil Berkeley sich gegen jede Form eines möglichen Atomkriegs engagierte – was ihn im Jahr 1948 seinen Job kostete. Tatsächlich hatten sich schon 1946 verschiedene Wissenschaftler und Ingenieure in den USA zusammengetan, die Rahmenbedingungen schaffen wollten, einen nukleare Konflikte zwischen den Supermächten zu verhindern. Dabei war er es, der die Prudential-Versicherung dazu brachte, einen Computer anzuschaffen – und zwar einen UNIVAC. Dieses mit Hunderttausenden von Röhren bestückte Ungetüm versetzte die Gesellschaft in die Lage, Versicherungsberechnungen in Stunden durchzuführen, für die um 1940 herum zehn Mathematiker je ein bis zwei Tage brauchten.
Bereits 1947 war er einer der Mitbegründer der Association for Computing Machinery (ACM), die heute als allererste Berufsvereinigung von Informatikern gilt und in Form von Kongressen und Korrespondenz Grundlagen der Computerei diskutierte und publizierte. Apropos: Berkeley wurde 1949 Gründer, Verleger und Herausgeber der „Computer and Automation“, die wiederum als die allererste Computerzeitschrift überhaupt gilt. Geschrieben hat er aber auch für die nicht weniger berühmte Publikation „Radio Electronics“, die sich an Elektro-, Radio- und Elektronikbastler wandte, einem Anfang der 50er sich rasant verbreitenden Hobby – dem nebenbei die Ladenkette Tandy Radio Shack ihren Erfolg verdankt.
Die Ära vor dem Transistor
Wohlgemerkt: Wir reden über eine Ära, die nicht einmal den Transistor kannte, jedenfalls nicht als frei verfügbares und massenhaft eingesetztes Bauelement. Der Begriff selbst tauchte ja erst 1948 auf, und bis zu den bei Halbstarken beliebten Koffer- und Transistorradios war es noch eine Weile hin. Wer also ein Elektronenhirn nach den Prinzipien von Ada Lovelace und Konrad Zuse bauen wollte, der musste auf elektromechanische Relais und/oder Elektronenröhren – wie sie in Rundfunkempfängern verbaut wurden – zurückgreifen. Nun war Edmund C. Berkeley, der auch unter dem Pseudonym Neil D. MacDonald publizierte ein visionärer Geist, der sehr früh den allgemeinen Nutzen der Datenverarbeitung erkannte.
Einigermaßen populär wurde er mit seinem 1949 erschienen Buch „Giant Brains, or Machines That Think“ (das übrigens nie ins Deutsche übersetzt wurde…), in dem er die meisten damaligen Rechenanlagen mit ihren technischen Eigenschaften und ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten beschrieb – was für die Mehrzahl der Leser vermutlich wie Science Fiction geklungen haben wird. Anhand der real existierenden Elektronenhirne erklärte die Prinzipien der Maschinenlogik auf verständliche Weise, breitete aber auch seine Vision von Computern überall und für jeden aus. Dass es in Zukunft so etwas geben könnte, demonstrierte er an einem fiktiven Rechner namens „Simon„, den er detailliert beschrieb.
Relais als logische Schaltelemente
Der Kasten sollte mit Relais als logischen Elementen arbeiten und, gefüttert mit handgestanzten Lochstreifen, einfach bis komplexere mathematische Berechnungen ausführen können. Berkeley schreibt in seinem Buch dazu:
Wir werden jetzt betrachten, wie wir eine sehr einfache denkende Maschine entwerfen können. Nennen wir sie Simon wegen ihres Vorgängers Simple Simon. [Anmerkung des Übersetzers: „Simple Simon“ ist ein englisches Kinderlied.] Simon ist so simpel und in der Tat so klein, dass er in eine Obstkiste passen würde, etwa vier Kubikfuß. [Anmerkung des Übersetzers: 0,11 Kubikmeter] […]
Es mag zunächst scheinen, dass ein so einfaches Modell eines mechanischen Gehirns wie Simon keinen großen praktischen Nutzen hat. Im Gegenteil: Simon hat den gleichen Wert für die Ausbildung wie ein Sortiment von einfachen chemischen Experimenten: Denken und Verstehen zu provozieren und für Übung und die Bildung von Fertigkeiten zu sorgen. Ein Ausbildungskurs über mechanische Gehirne könnte sehr wohl die Konstruktion eines einfachen Modells eines mechanischen Gehirns als Übungsaufgabe beinhalten. [Übersetzung laut Wikipedia]
In einem Artikel für Scientific American im November 1950 trieb Berkeley seine Zukunftsvision weiter – und zwar mit ziemlich genau dahin wo wir heute in einer fast vollständig durchdigitalisierten Welt stehen:
Eines Tages werden wir vielleicht kleine Computer in unseren Wohnungen haben, die ihre Energie aus der Stromleitung beziehen wie Kühlschränke oder Radios. […] Sie erinnern uns vielleicht an Tatsachen, die wir sonst vergessen würden. Sie könnten Kontenstände und Einkommensteuern berechnen. Schulkinder könnten sie zu Rate ziehen, um ihre Hausaufgaben zu erledigen. Vielleicht könnten sie auch Kombinationen von Möglichkeiten durchsehen und auflisten, die wir brauchen, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Möglicherweise werden wir in Zukunft eine Welt voller mechanischer Gehirne vorfinden, die für uns arbeiten. [Übersetzung laut Wikipedia]
Ein Visionär auf Zukunftsmission
Er irrte eigentlich nur in einem Punkt, weil er weder das Potenzial von Transistoren erkannte, noch so etwas wie den Mikroprozessor erahnte, sondern von einem „mechanischen Gehirn“ ausging. Aber aus dieser Vision wurde auch eine Mission, die beispielsweise zur Entwicklung von Geniac führte, einem elektronischen Spielzeug von 1955, das schon als Computer bezeichnet wurde; ein Projekt, das Berkeley bis weit in die 60er unter dem Namen „Braniac“ betrieb. Und ganz nebenbei war er auch der erste, der den Begriff „Computer Art“, also „Computerkunst“ prägte, indem er so ein mit Computerunterstützung gefertigtes Bild, das auf dem Titel seiner „Computer and Automation“ zu sehen war, so bezeichnete.
So bedeutend Edmund C. Berkeley in dieser sehr frühen Phase der Computergeschichte war, so wenig hat man von ihm in den heißen 70ern gehört. Ja, man kann sagen, dass er ab etwa 1975 weitestgehend in Vergessenheit geraten war – vielleicht auch, weil er im kühlen Minnesota saß und nicht im milden und hippen Kalifornien, wo die coolen Jungs vom Homebrew Computer Club an den Computern für den Rest von uns bastelten. Ob Personen wie Steve Jobs, Chuck Peddle, Bill Gates oder einer der anderen Pioniere jener Zeit die Vision des Edmund C. Berkeley kannten oder gar von ihm beeinflusst waren, ist unbekannt. Es wäre interessant, darüber einmal zu forschen…