Handys und Smartphones können enorm stören. Thomas Kuhn erinnert sich an die ersten Handystörer.
Bald 23 Jahre ist es inzwischen her, dass die digitalen Mobilfunknetze D1 und D2 in Deutschland an den Start gegangen sind. WirtschaftsWoche-Technik-Experte Thomas Kuhn erinnert sich an peinliche Überraschungen, ungewohnten Komfort und die ersten Vorboten einer kommunikativen Pest.
Die Blamage beginnt mitten im Vortrag von Professor Mackscheidt. Plötzlich unterbricht etwas bis dato Unerhörtes die finanzwissenschaftliche Vorlesung des Kölner Universitätsprofessors. Es ist spät im Sommersemester 1992 und zum ersten Mal überhaupt erfüllt penetrantes Gedudel den Saal: Das Läuten eines Mobiltelefons.
Meines Mobiltelefons. Mit ziemlicher Sicherheit bin ich der erste Handy-Störer, der je eine Vorlesung der altehrwürdigen Universität zu Köln entweiht hat. Vielleicht bin ich sogar der erste Handy-Störer in Köln überhaupt. Es ist gerade mal ein paar Tage her, seit D1 und D2, die neuen Digitalfunknetze von Telekom und Mannesmann Mobilfunk, in Betrieb gegangen sind. Und ich – damals noch VWL-Student in Köln und angehender Journalist – teste die neue Technik für ein Kölner Wirtschaftsmagazin. Im Vertrauen darauf, dass einerseits zu diesem frühen Zeitpunkt bestenfalls ein paar Hundert D-Netz-Telefone in Betrieb sind und andererseits ohnehin niemand meine Rufnummer kennt, habe ich mein Testgerät in die morgendliche Vorlesung mitgenommen. An Handys oder gar Smartphones wagt damals noch niemand zu denken.
Mein tragbares Telefon, ein Panasonic EB 2803, hat noch das Format einer veritablen Damenhandtasche und mit knapp zwei Kilogramm auch ein vergleichbares Gewicht. Tatsächlich füllt es meine lederne Überwurftasche, mit der ich an der Uni unterwegs bin, nahezu komplett aus. Nur ein Notizblock und eine alte Mitschrift passen noch daneben. Beides dämmt das Plärren aus dem Telefon-Lautsprecher kaum.
Der Handystörer sitzt das Klingeln aus
Aussitzen, denke ich mir. Einfach ignorieren. Schließlich kennt ja – außer mir – noch kaum niemand das Geräusch. Das inzwischen fast omnipräsente Telefon-Getöse von Hardrock bis Hundegebell kann sich Anfang der Neunzigerjahre niemand vorstellen. Und auch der Siegeszug von Nokias Standard-Klingelton, dem „Gran Vals“ des spanischen Musikers Francisco Tarrega aus dem 19. Jahrhundert, beginnt erst Jahre später. Und tatsächlich, in der Weite des Hörsaals ist die genaue Lage der Schallquelle nicht recht zu identifizieren. Alle, ich eingeschlossen, blicken (tatsächlich oder vorgeblich) suchend im Raum herum, bis – endlich – das Klingeln erstirbt. Der Anrufer hat aufgelegt.
Nach der Vorlesung setze ich mich in den Park neben dem Unigebäude, weitab von den Kommilitonen, und sehe nach, wer angerufen hat. Es ist die Redakteurin für die ich den Artikel über die neuen Mobilfunkdienste schreiben soll. Als ich zurückrufe, ist sie erst verärgert, wieso ich nicht erreichbar sei: Ich hätte doch jetzt ein Mobiltelefon – die Pest der ständigen Verfügbarkeit wirft da erste, frühe Schatten voraus. Dann entschuldigt sie sich, sie habe ja nicht ahnen können… Auch das ein Satz, den ich in den zwei Jahrzehnten seither sicher tausendfach gehört habe. Was denn meine ersten Eindrücke seien von der neuen, angeblich so revolutionären Kommunikationstechnik, will sie wissen. Ich erzähle von der Schwierigkeit, sich beim Fahren im Auto nicht von Telefonaten ablenken zu lassen, berichte von der Not zu kurzer Akkulaufzeiten.
Und von neuen, komfortablen Mobilfunkdiensten, wie der Möglichkeit sich von einem Handy-Concièrge – damals noch ein echter Mensch im Call-Center und nicht ein Sprach-Computer namens Siri – ein Restaurant empfehlen, ein Hotel buchen oder den Weg zum Ziel weisen zu lassen.
Letzteres allerdings entpuppt sich als nur bedingt nützlich. Als ich mich zu Testzwecken vom Netzbetreiber in einen abgelegenen Weiler der Eifel lotsen lassen will, führt mich der nette Telefonist zwar zügig Richtung Ziel. Doch erreichen werde ich es nicht, weil die Funkversorgung abseits der Städte kurz nach dem Start der D-Netze noch so lückenhaft ist, dass die Verbindung zum Lotsen auf halbem Wege abbricht. Den Weg zum Ziel finde ich damals – ganz traditionell – mithilfe der Straßenkarte. Dass die zwei Jahrzehnte später mindestens so obsolet sein wird wie menschliche Handy-Concièrges, weil die Ur-Ur-Enkel meines ersten Panasonic EB 2803 inzwischen nicht mehr nur Telefone sind sondern auch Fotoapparate, Videokameras, Taschen-Kinos, Adressbücher, Kalender, Schrittzähler, Pulsmessgeräte und Navigationsgeräte, das ahne ich 1992 noch nicht.
Die schier unvorstellbare Erfolgsgeschichte des digitalen Mobilfunks hat an diesem Morgen im Hörsaal 10 der Kölner Uni ja auch gerade erst begonnen.