Scripting News von David Winer - eines der ältesten noch existierenden Weblogs seit 1999

Kleine Weltgeschichte des Bloggens – vom Internettagebuch zum Influencer-Ding

Für viele Pionier:innen des weltweiten Webs ist die Geschichte des Internets eine der unerfüllten Hoffnungen. Denn alle Ideen und Vorstellungen des Ur-Vaters Tim Berners-Lee waren auf Freiheit ausgerichtet, vor allem die persönliche, freie und unzensierbare Freiheit der Kommunikation. Deshalb war auch die allererste, von ihm aufgesetzte Website ein Blog. Oder wie man bis Ende der Neunzigerjahre sagte: ein Computer-, Internet- oder Cyber-Tagebuch. Denn der gute Tim schrieb seine Ideen, Erfahrungen und Erlebnisse jeweils mit einem Datum versehen auf diese Website. Ab 1996/97 kamen dann auch die ersten deutschsprachigen „Homepages“ nach diesem Muster ans Licht der digitalen Öffentlichkeit. Es war aber ein gewisser Jorn Barger, der ab 1999 nicht nur den Begriff prägte, sondern auch die über viele Jahre spezifische Form des Blogs entwickelte.

Er hat's erfunden: Jorn Barger prägte den Begriff Weblog (Foto: JB)
Er hat’s erfunden: Jorn Barger prägte den Begriff Weblog (Foto: JB)
Altgedienten Blogger:innen kräuselt es die Zehennägel, wenn sie hören, dass die Leute „der Blog“ sagen. Das hat sich zwar eingebürgert und ist laut Duden auch legitim, aber trotzdem falsch. Denn das Wort „Blog“ ist die Abkürzung für den von Barger eingeführten Begriff „Weblog“. Bei näherer Betrachtung wird die ganze Poesie dieser Wortschöpfung deutlich. Hier wird auf das Logbuch verwiesen, also das Buch, das alle Schiffe auf allen sieben Weltmeeren an Bord haben und in dem der Kapitän aufzeichnet, wo sich der Kahn an einem gegebenen Tag befunden hat und was geschehen ist. In Zeiten, in denen man bei der Nutzung des WWW noch vom „Surfen“ sprach, passte diese Metapher noch besser. Und Jorn Barger tat nichts anderes als täglich die URLs der Webseiten aufzulisten, die er besucht hatte und an denen ihnen etwas Besonderes aufgefallen war.

Das Blog "Robot Wisdom" im Jahr 2001 (per Wayback-Machine)
Das Blog „Robot Wisdom“ im Jahr 2001 (per Wayback-Machine)

Sein Blog namens „Robot Wisdom“ war also das Logbuch seiner Seefahrten durch das noch junge Netz. Um 1999 herum entstanden in den USA, aber auch in Europa Dutzende solcher Weblogs, die vor allem Links enthielten. Nicht nur bei Barger nahm allerdings die Menge und Tiefe der kommentierenden Texte zu, und irgendwann besprachen Blogger:innen nicht mehr nur Websites, sondern auch Fernsehsendungen, Spielfilme und Bücher. Schließlich begannen einige das Tagesgeschehen zu kommentieren. Und gegen 2002 hatten auch professionelle Publizisten das neue Medium entdeckt und nutzten es, um wenig bekannte Informationen zu verbreiten.

Einer der ersten, der diese Form des Weblogs in deutscher Sprache betrieb und immer noch betreibt, ist Jörg Kantel, der Schockwellenreiter. Bis heute liefert er so gut wie täglich Interessantes aus dem Bereich der Programmiererei, viel Politisches und manches Privates. Kantel zählt nicht nur zu den Vorreitern, sondern – ebenfalls bis heute – zu den Vertretern der idealistischen Idee von der Information, die frei sein will, vom freien, unabhängigen Publizieren durch Jedermann. Von etwa 2000 bis 2006 waren die deutschen Blogger:innen so sehr miteinander vernetzt, dass sie selbstironisch vom „Kleinbloggersdorf“ redeten – und immer am Rande des Größenwahns ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung überschätzten.

Seit über 20 Jahren aktiv: der Schockwellenreiter (Screenshot)
Seit über 20 Jahren aktiv: der Schockwellenreiter (Screenshot)

Besondere Blüten jener Jahre waren das Blog von Mario Sixtus, das legendäre „Indiskretion Ehrensache“ des damaligen Handelsblatt-Journalisten Thomas Knüwer und das teils skurrile Blog „Industrial Technology & Witchcraft“ des viel zu früh verstorbenen Majo Heinze. Auch der inzwischen in die rechtskonservative Ecke verrückte Don Alphonso zählte mit seinem Blog „Rebellen ohne Markt“ zu diesem Kreis. Die Jahre 2002 bis 2008 kann man aus heutiger Sicht als die Blütezeit der deutschsprachigen Blogs betrachten.

Das legendäre Blog "Industrial Technology & Witchcraft" in der Wayback-Machine
Das legendäre Blog „Industrial Technology & Witchcraft“ in der Wayback-Machine

Auf der technischen Seite öffnete 1999 ein Webservice namens Blogger.com die Türen für den Rest von uns. Denn über diese Website konnten nun auch Menschen ohne oder mit rudimentären HTML-Kenntnissen ein Blog eröffnen und betreiben. Wie wir wissen, schluckte Google irgendwann Blogger.com und in der Folge auch die Konkurrenz Blogspot. Parallel schossen vergleichbare Angebote wie Pilze aus dem Boden – ein großer Teil davon entwickelt von der Open-Source-Gemeinde und betrieben von Idealisten. Und 2003 erschien dann WordPress – zunächst ebenfalls als Service, ab 2005 dann als Content-Managementsystem, mit dem Blogger:innen ihre Seiten selbst bauen, gestalten und über eigene Server publizieren konnten.

Apropos: Ungefähr 2005 war der Hype ums Bloggen dann so groß, dass Armeen von Beratern Unternehmen empfahlen, unbedingt auch ein Blog anzubieten. Übrigens: Ungefähr um diese Zeit war der Wortursprung „Weblog“ schon in Vergessenheit geraten, und das berühmte Wörterbuch Merriam-Webster kürte „Blog“ 2004 zum Wort des Jahres. Damit Firmen aber auch bloggen konnten, rüsteten die Entwickler diverse Content-Managementsystem mit Blog-Funktionen aus. Viele Unternehmen stellten aber bald fest, dass das regelmäßige Bloggen ganz schön arbeitsintensiv ist, und so schwanden viele, viele Company-Blogs in kurzer Zeit wieder dahin.

Das Saftblog - eines der wenigen erfolgreichen Unternehmens-Blogs; hat immerhin bis 2010 überlebt
Das Saftblog – eines der wenigen erfolgreichen Unternehmens-Blogs; hat immerhin bis 2010 überlebt

Dafür aber entdeckten in dieser Phase Tausende politischer Aktivisten, vor allem in nicht demokratisch verfassten Staaten mit repressiven Strukturen und real existierender Zensur das Blog als Instrument der Gegenöffentlichkeit für sich. Bewegungen wie der „Arabische Frühling“ sind ohne Blogger nicht denkbar. Die Oppositionsbewegungen weltweit – Nordkorea inklusive – nutzten das Web so für ihre Aufklärungsarbeit. Heute ist es beinahe so, dass das Wort „Blogger“ synonym ist mit Widerstandskämpfer:in, und die Zahl der vom jeweiligen System eingekerkerten oder gar ermordeten Blogger:innen geht in die Hunderte.

Blogger.com gehört Google und hat mehrere Blog-Plattformen geschluckt
Blogger.com gehört Google und hat mehrere Blog-Plattformen geschluckt

Aber, wie das so ist: Zigtausende Menschen in aller Welt starteten irgendwann ein Blog, mussten aber bald feststellen, dass ihnen nicht genug einfiel. Um 2008 herum lagen nach damaligen Studien gut 60 Prozent aller als Blog zu identifizierten Websites brach. Blogspot sprach 2009 selbst von mehr als 70 Prozent inaktiver Blogs auf der eigenen Plattform. Die Menschen wollten also öffentlich etwas sagen, aber nicht so viel Arbeit damit haben. Auftritt: Twitter. Dieser 2006 eröffnete und in kürzester Zeit erfolgreich Kanal ritt auf der Blog-Welle und bezeichnete sich selbst als „Microblogging-Plattform“. Nicht ganz zu Unrecht, denn die wesentlichen Kriterien, die ein Blog ausmachen, erfüllt auch jeder Twitter-Account: die Postings sind mit Datum versehen und chronologisch angeordnet sowie einer Person (bzw. Institution) eindeutig zugeordnet.

Tatsächlich vernachlässigten Hunderte Weblog-Pioniere nun ihre Websites, um täglich oder gar stündlich ihre Meinung in 140 Zeichen in die Welt zu schicken. Twitter war der erste Killer der Blog-Bewegung, Facebook der zweite. Denn gerade in der Anfangszeit als tatsächlich noch real existierende Menschen in einem fast werbefreien Biotop ihren Freunden von sich und ihrem Leben berichteten, nahm Facebook für viele, viele Leute die Funktion eines Blogs ein.

WordPress: Erst nur Blogging-Werkzeug, heute echtes Content-Managementsystem
WordPress: Erst nur Blogging-Werkzeug, heute echtes Content-Managementsystem

Und heute? Der Begriff „Blogger“ wird nur noch selten und meist im oben erwähnten Zusammenhang benutzt. Das, was die Blogger:innen der ersten Stunden tatsächlich waren oder sein wollten, sind heute die Influencer:innen. Ja, es hat (einige wenige) Blogs gegeben, deren Betreiber:innen so viel Werbegeld einnahmen, dass sie davon leben konnten, aber das war weit entfernt von den Geschäftsmodellen der Leute, die heute per Insta oder TikTok (und auch noch immer ein bisschen YouTube) Millionenumsätze generieren. In einem Themenbereich hat das gute alte Blog aber immer noch die Nase vorn, sodass der Begriff „Foodblogger“ heute als Berufsbezeichnung gesehen wird.

Auf der anderen Seite haben gerade die vielen Journalisten, die das Bloggen früh für sich entdeckt hatten, aus ihren Weblogs nach und nach journalistische Angebote gemacht, die den üblichen journalistischen Standards genügen. Und aus den Blogs der bekannten Online-Zeitungen und -Magazine sind mit der Zeit einfach nur persönliche Kolumnen geworden, wie man sie aus dem Zeitalter der Printmedien kennt.

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