1997: Kasparow gibt gegen Deep Blue auf (Screenshot: The Man vs. The Machine)

Kleine Weltgeschichte des Computerschachs

Wir stecken mitten in einem unerwarteten Schachboom. Die gängige Theorie ist, dass der von der grandiosen Netflix-Serie „Das Damengambit“ aus dem Jahr 2020 ausgelöst und durch diverse Corona-Lockdowns befördert wurde. Tatsächlich aber erleben Online-Plattformen wie chess.com und lichess.org schon seit gut fünf, sechs Jahren ein exponentielles Wachstum an registrierten Usern. Die YouTube- und Twitch-Kanäle, auf denen professionelle Schachspieler:innen Partien spielen und/oder analysieren, zählen schon seit etwa 2016 zu den beliebtesten. Wer – wie der Verfasser dieses Artikels – schon seit gut 50 Jahren in Sachen Schach unterwegs ist, den überrascht das nicht, denn das Interesse an und die Begeisterung für das Schachspiel kam und ging schon immer in Wellen. Man denke nur an die erste große Blütezeit des Computerschachs und der Schachcomputer zwischen 1980 und etwa 1985. Grund genug, sich einmal mit der Historie dieser besonders interessanten Spielart der Computeranwendung zu befassen.

Es war der mehrfache russische bzw. sowjetische Schachweltmeister Michail Botwinnik, der sich als erster praktisch mit der Frage auseinandersetzte, ob und mit welcher Stärke Computer das königliche Spiel würden spielen können. Theoretisch hatten sich vor ihm bereits Computerpioniere wie Alan Turing mit diesem Thema befasst. Botwinnik begann um 1970 herum jedoch damit, ein Programm entwickeln zu lassen, dass Schachprobleme lösen sollte, denn als Elektrotechnik-Ingenieur mit einer Ausbildung in den Vierzigerjahren war er nicht in der Lage selbst Programme zu schreiben.

1936: Michail Btwinnik vs Emmanuel Lasker (public domain, via Wikimedia)
1936: Michail Btwinnik vs Emmanuel Lasker (public domain, via Wikimedia)

Zwei Amerikaner spielten als Pioniere die weitaus größere Rolle: Hans „Jack“ Berliner, dessen Familie 1937 wegen des NS-Regimes emigrierte, und sein Professor Alan Newell. Letzterer war stark beeinflusst von den Lehren zur Kybernetik des Norbert Wiener und den mathematischen Theorien des Bertrand Russell. Beides inspirierte ihn dazu, sich mit dem maschinellen Lösen von Problemen zu befassen, also der einen Wurzel dessen, was wir heute „Künstliche Intelligenz“ nennen. Berliner studierte bei Newell, seine Abschlussarbeit wurde von ihm betreut. Während Alan Newell aber mit Schach nichts am Hut hatte, war Jack aktiver Spieler und wurde später gar Fernschachweltmeister.

Hans "Jack" Berliner: Fernschachweltmeister und Computerschachpionier (Foto: Carnegie Mellon University)
Hans „Jack“ Berliner: Fernschachweltmeister und Computerschachpionier (Foto: Carnegie Mellon University)

Zu diesem Zeitpunkt Anfang, Mitte der Siebzigerjahre waren etliche Grundlagen des Computerschachs schon gelegt, zum Beispiel verschiedene Methode, das Schachbrett computerlesbar zu repräsentieren, die Regeln zu implementieren und die (möglichen) Züge zu generieren. Besonders wichtig: Alle Spieler und Entwickler, die sich mit dem Thema befassten, hatten sich auf eine verbindliche, datenbankgerechte Notation geeinigt – eine Tatsache, die später noch eine gewaltige Rolle spielen wird.

Frühe Schachprogrammierung: die Brettdarstellung (aus Das Große Computerschachbuch, privat)
Frühe Schachprogrammierung: die Brettdarstellung (aus Das Große Computerschachbuch, privat)

Die wenigen Hardwaretechniker – besonders im Hause IBM -, die sich mit Computerschach befassten, waren der Ansicht, dass ein „Elektronenhirn“ mit ausreichend viel Speicher und extremer Rechenpower in nicht allzu ferner Zukunft jeden Großmeister schlagen würde, weil die Maschine – geeignete Software vorausgesetzt – an jedem Punkt der Partie einfach alle nach den Regeln möglichen Züge bis zum Ende durchrechnen würde und so jederzeit den optimalen Zug ermitteln könnte. Diese Methode fand unter dem Begriff „Brute Force“ Eingang ins Computerschach. Nur gab es eben zu Beginn der Achtzigerjahre keine solchen Maschinen, nicht einmal im Bereich der Supercomputer. Kein Wunder, liegt die Zahl der möglichen Fortsetzungen schon vor dem Eröffnungszug jenseits menschlicher Vorstellungskraft.

Mephisto 1: Einer der ersten populären Schachcomputer (Foto: privat)
Mephisto 1: Einer der ersten populären Schachcomputer (Foto: privat)

Inzwischen wissen wir, dass keine vorstellbare Maschine mit reiner Brute-Force-Methodik unter Turnierbedingungen in der Lage wäre, die besten Züge innerhalb der Zeitkontrolle zu finden. Außerdem war die Entwicklung dank Newell und Berliner schon mehrere Schritte weiter. Allein die Algorithmen zum Generieren der Züge waren um 1980 herum schon fast so gut wie heute. Und eine ganze Schar an Programmentwicklern weltweit, die meisten von ihnen aktive Schachspieler, arbeiteten an verlässlichen Bewertungsfunktionen. Es waren drei Deutsche, die 1979 mit dem Mephisto I einen Schachcomputer entwickelten, der 1980 auf den Markt kam und tatsächlich in der Lage war, regelmäßig auch gegen ambitionierte Hobbyspieler zu gewinnen. Während Thomas Nitsche und Elmar Henne den Code schrieben und dem Hersteller Hegener + Glaser das Gerätedesign vorschlugen, steuerte Ossi Weiner eine Eröffnungsbibliothek bei.

Das Damengambit: Beth Harmon spielte ohne Computerunterstützung (Foto:  Phil Bray/​Netflix)
Das Damengambit: Beth Harmon spielte ohne Computerunterstützung (Foto: Phil Bray/​Netflix)

Ein entscheidender Schritt rund um den ersten Mephisto war genau diese Implementierung einer Eröffnungsbibliothek. Das heißt: Fest verdrahtet waren alle erfolgversprechenden Varianten aller gängigen Eröffnungen, so dass das Programm in der ersten Phase einer Partie keine Züge zu berechnen hatte, sondern sie nachschlagen konnte. Funfact am Rande: Unter den ersten Fans des Mephisto sprach sich schnell herum, dass man den Schachcomputer schnell „aus der Ruhe bringen“ konnte, indem man a) ungewöhnliche Eröffnungen und Varianten wählte und b) ab einem gewissen Punkt auch mal einen suboptimalen Zug einstreute.

1985 - Das große Computerschachbuch
1985 – Das große Computerschachbuch (Abb.: privat)

Verrückt genug, aber Mitte der Achtzigerjahre war die Entstehungsgeschichte des Computerschachs schon fast auserzählt. Entwickler wie Hans-Joachim Kraas und Günther Schrüfer (mit denen gemeinsam der Verfasser dieses Artikels 1986 bei Data Becker Das Große Computerschachbuch herausbrachte), die allesamt an den damals IT-technisch am weitesten fortgeschrittenen Unis studierten, forschten und lehrten, waren schon ins Stadium der Optimierung eingetreten. Zum Beispiel rund um das Problem der Bewertung, also der Frage, auf welche Weise das jeweilige Schachprogramm die möglichen Züge bewertet, um den optimalen herauszufinden.

Die zweite große Baustelle: Die Anzahl der durchzurechnenden Varianten sinnvoll zu beschränken. Das Bild, das hier zum Tragen kam, war das eines Entscheidungsbaums – wenn Weiß im 12. Zug Sg1-f3 zieht, ergibt jeder reguläre Zug von Schwarz den Ast eines solchen Baums. Es ging darum, Algorithmen zu finden, um Äste zu kappen, die nicht zu positiven Ergebnissen führten. Dass dies alles – auf relativ geringem Niveau – keine Raketenwissenschaft war, bewiesen Kraas und Schrüfer mit einem im C64-BASIC geschriebenen Programm, das im erwähnten Buch als Listing zum Abtippen vorlag.

Matthias Wüllenweber erklärt Garri Kasparow ChessBase (Foto: ChessBase)
Matthias Wüllenweber erklärt Garri Kasparow ChessBase (Foto: ChessBase)

Zwei weitere Deutsche spielten eine wichtige Rolle im Computerschach: Frederic Friedel und Matthias Wüllenweber. Friedel ist einer der Pioniere dieses Gebietes und brachte das Computerschach bereits 1970 ins Fernsehen. In einer epochalen Sendung trat das Schachprogramm Chess 4.8 gegen den aktiven Spieler und Mathematiker David Levy an, und Friedel erklärte gemeinsam mit dem Moderator Volker Arzt den Stand der Technik. Vermutlich war es diese Sendung, die das Geschäft mit den Schachcomputer derart befeuerte, dass Mephisto und andere Geräte zu einem beliebten Weihnachtsgeschenk ab 1980 wurden. 1983 gründete Friedel zusammen mit Dieter Steinwender die Zeitschrift „Computerschach und Spiele„, die über mehr als 20 Jahre die Entwicklung des Themas begleitete.

Frederic Friedel erklärt Garri Kasparow ChessBase (Screenshot: How Kasparov helped in the founding of ChessBase)
Frederic Friedel erklärt Garri Kasparow ChessBase (Screenshot: How Kasparov helped in the founding of ChessBase)

Frederic Friedel traf man in jenen Jahren bei jeder wichtigen Schachveranstaltung, wo er nicht nur die führenden Großmeister kennenlernte, sondern sich auch mit einigen anfreundete. Unter anderem mit dem späteren Weltmeister Garri Kasparow. Kürzlich erzählte er in einem SPIEGEL-Interview, wie es so zur Entwicklung von ChessBase kam, einer Datenbank, die den Schachsport grundlegend verändert hat:

Friedel: Kasparow war 1985 beim SPIEGEL in Hamburg zu Gast. Er wusste, dass ich in der Nähe lebte, und besuchte mich zu Hause. Als wir uns kennenlernten, waren wir nach etwa sieben Minuten Freunde. Er sagte: »Erzähl mir alles, was ein Computer kann.« Und ich sagte: »Sag mir alles, was ein Computer für Schachspieler können soll.« Er wollte eine Datenbank für Partien. Ich machte einen Plan, aber ich konnte das nicht programmieren. Der SPIEGEL schrieb darüber und jeder Betrüger und Irrsinnige in Deutschland meldete sich bei mir und behauptete, er habe eine solche Datenbank. Aber die hatten nichts, die wollten nur Kontakt zu Kasparow.
SPIEGEL: Bis dann doch jemand etwas Passendes hatte.
Friedel: Ein junger Mann gab mir eine Diskette. Das war Matthias Wüllenweber, damals Physikstudent in Bonn. Zu Hause schob ich die Diskette in meinen Atari. Da war eine Liste von Partien, man konnte sie laden und abspielen. Ich dachte: »Meine Güte, das ist eine richtige Schachdatenbank, wie wir uns das vorgestellt haben.« Ich habe Matthias angerufen und gesagt, dass ich die Datenbank Garri Kasparow zeigen möchte. Der war gerade Weltmeister geworden und spielte nun in Basel ein Match gegen Tony Miles.
Friedel: Ja. Matthias und ich bauten in meinem Hotelzimmer einen Rechner auf. Als Garri mit seiner Partie fertig war, sagte ich, ich wolle ihm etwas zeigen. Er sagte: »Fred, ich bin müde.« Aber er kam dann doch in mein Zimmer. Da sah er Matthias sitzen, drehte sich um und wollte gehen. Er wollte keine neuen Leute kennenlernen. Aber ich stellte mich ihm in den Weg und er setzte sich auf mein Bett. Matthias zeigte ihm das Programm, wie man eine Partie laden und abspielen kann. Plötzlich ließ sich Kasparow nach hinten fallen und machte die Augen zu. Matthias guckte mich beunruhigt an. Garri lag da zwei Minuten, dann sprang er auf und sagte: »Das ist die wichtigste Entwicklung in der Schachforschung seit Gutenberg.« [Quelle: Der SPIEGEL, online am 1012.2021]

Ebendieser Matthias Wüllenweber hatte sich kurz vorher in der Redaktion der Computerzeitschrift DATA WELT (die zu leiten der Verfasser dieses Artikels fünf Jahre lang die Ehre hatte) gemeldet, kam vorbei und präsentierte seine Schachdatenbank für den Atari ST. Da dies weder beim Herausgeber noch bei den Redakteuren auf größere Begeisterung stieß, blieb es bei einem kleineren Artikel in der Ausgabe 4/85.

ChessBase hat das Schachspiel revolutioniert (Screenshot: ChessBase)

Friedel und Wüllenweber gründeten 1986 die Firma ChessBase, die das gleichnamige Produkt anbot – die auf Wüllenwebers Entwicklung basierende Software samt einer immensen Bibliothek an gespielten und dokumentierten Partien. Mit einem Schlag waren die Tausenden an gedruckten Partiensammlungen Makulatur. Sowohl Anfänger, die Schach durch das Nachspielen von Partien erlernen wollten als auch Schachsportler bis hin zu den Großmeistern, die sich auf Turniere vorbereiteten, griffen begierig zu ChessBase. Weil die Software bereits eine ausgefeilte Bewertungsfunktion besaß, bildete es eine Wurzel für das für seine Zeit fast konkurrenzlose Schachprogramm Fritz, das ab 1995 für Furore sorgte.

Kasparow vs Deep Blue (Screenshot: Garry Kasparov VS Deep Blue 1997 6th Match)
Kasparow vs Deep Blue (Screenshot: Garry Kasparov VS Deep Blue 1997 6th Match)

Einen weiteren Meilenstein bildete die von IBM geförderte Schachmaschine Deep Blue, das erste „Programm“, dem es 1996 gelang einen amtierenden Weltmeister (Garri Kasparow) in einer Partie unter regulären Turnierbedingungen inklusive Zeitkontrolle zu schlagen. Allerdings mit extremem Aufwand. Teamleiter war Feng-hsiung Hsu, dem über drei Jahre beinahe unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung standen. So wurde eigens für Deep Blue ein Zuggenerator auf einem Chip entwickelte.

Deep Blue war ein massiv paralleler, SP-basierter RS/6000-Rechner. Die Version von 1996 bestand aus 36 Knoten und 216 speziellen VLSI-Schachprozessoren, die Version von 1997 aus 30 Knoten mit 480 Chips. Jeder Knoten verfügte über 1 GB RAM und 4 GB Festplattenspeicher. Die Schachsoftware war in C geschrieben und lief unter dem Betriebssystem AIX 4.2. Sie berechnete je nach Stellungstyp zwischen 100 und 200 Millionen, im Durchschnitt 126 Millionen Stellungen pro Sekunde. [Quelle: Wikipedia]

Auch wenn Deep Blue nicht rein nach der Brute-Force-Methode arbeitete, rechnete die Maschine mehr Stellungen pro Sekunde durch als jeder andere Computer zuvor – und übrigens auch danach. Denn während Deep Blue mehr als IBM-Machtdemonstration gedacht war, forschten und entwickelten inzwischen weltweit Hunderte Schachprogrammierer an KI-Lösungen für das Spiel der Könige. Immerhin brachte sich Deep Blue einiges an „Schachwissen“ durch die Analyse einiger Zehntausend Meisterpartien quasi selbst bei.

Shredder geschlagen – darauf kann man sich was einbilden… (Screenshot, privat)

Mittlerweile haben Schachprogramm und -Apps Spielstärken erreichte, mit denen sie noch vor 20 Jahren bei lokalen, regionalen und nationalen Turnieren gute Chancen auf den jeweiligen Titel gehabt hätten. Tatsächlich gab es ab etwa 2000 immer wieder Skandale um Spieler, die illegal und verdeckt mit Computerhilfe antraten. Weil aber bei der Entwicklung fast immer Schachenthusiasten führend tätig waren, also aktive Schachspieler, teils auf Großmeisterniveau, flossen immer mehr praktische Erfahrungen in die Programme ein. Außerdem hat sich das ganze Gebiet in beinahe autonome Teilbereiche ausdifferenziert. Man schätzt, dass aktuell mehr als 400 Millionen Menschen regelmäßig Schach mit und gegen Computer(programme) spielen.

Und weil Schachspieler:innen weltweit seit über 25 Jahren das Spiel mit und gegen Computer gewohnt sind, boomen vor allem die Online-Plattformen, auf denen manchmal bis zu 10 Millionen Spieler:innen gleichzeitig Partien gegen andere Schachfreund:innen oder die integrierten Engines spielen. Das allerdings auf Kosten des „echten“ Schachspieles, bei dem Menschen live und vor einem klassischen Brett gegeneinander antreten. Dem über gut hundertfünfzig Jahre höchst beliebten Fernschach hat das Computerschach beinahe den Garaus gemacht. Auch die Erfolgsära der dezidierten Schachcomputer währte relativ kurz: nur noch zwei, drei Hersteller weltweit bieten Schachbretter mit integriertem Computer an.

Und wer sich intensiver mit der Geschichte des Computerschachs und dem Stand der Dinge befassen möchte, dem sei zum Durchstöbern das sensationelle Chess Programming Wiki empfohlen, dass der Verfasser dieses Artikels auch an vielen Stellen zurate gezogen hat.

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