Boris Becker: Bin ich schon drin

Online-Leben (4): Bin ich schon drin?

Und plötzlich wollten alle rein – in dieses Internet, das ja bis heute noch mancher Bundeskanzlerin Neuland ist. Warum, wieso – keine Ahnung. Aber ein Unternehmen machte mit Macht den Weg frei und nervte unterwegs Millionen Konsumenten. AOL (America Online) hatte inzwischen Compuserve übernommen und auch den Entwickler des einzig wahren Webbrowser: Netscape bekam das nicht gut, wurde rasch vom Microsoft Internet Explorer (IE) überholt, überlebte aber bis heute in den Engines verschiedener Browser. Bernhard W. kann seinen Widerwillen gegen AOL bis heute nicht ganz unterdrücken und erzählt in dieser Folge, wie er die Kommunikation der alten BBS-Tage im Internet wiederentdeckte.

F: Du warst 1999 schon drin; Boris Becker aber noch nicht..

A: Hör mir bloß auf mit AOL! Es ging ja schon damit los, dass die Compuserve kauften und gleichzeitig Journalisten massenweise kostenlose AOL-Accounts schenkten. Plötzlich war es hip und cool, eine AOL-Adresse zu haben. Und da war das System ja auch noch proprietär; wenn du eine AOL- und eine Compuserve-Adresse hattest, brauchtest du zwei Programm, um beide Konten zu nutzen. Schrecklich! Und dann dieser Tennis-Depp!

Alles AOL, oder was?

F: Aber gut gemacht war die Kampagne von 1999 schon, oder?
A: Ja, setzte voll auf den Idioteneffekt. Wenn das Bobbele schon drin ist, dann schaff ich das auch. Okay, schön abgefilmt, überzeugend dargestellt. Aber dieser TV-Spot hat ja auch die Schleusen für mehrere Millionen Disketten und später CDs mit der AOL-Software geöffnet. Über Jahre lag ja nicht nur Computerzeitschriften ständig so ein Datenträger bei. Du konntest ja nicht einfach so ins Internet – das suggerierte AOL den Ottos Normalverbrauchern ja -, sondern nur mit der AOL-Software. Die übrigens Mitte der 2000er-Jahren von der PC World zur schlechtesten Software aller Zeiten gewählt wurde.

F: Wie bist du denn reingekommen ins Internet?
A: Wie heute auch: Internetzugang beim Provider meines Vertrauens, Browser auf dem PC, fertig. Und immer so schnell wie technisch möglich. Was um 1999 herum nicht wirklich viel war. Da war ja von Breitband noch nicht einmal die Rede. Aber mit meinem Superduper-Zyxel-Modem flutschten die Bilder nur so rein. Dass man zehn Jahre später Live-Streams verfolgen und Videos übers Web auf dem Rechner würde sehen können, davon haben wir nicht einmal geträumt.

F: Letztes Mal hast du berichtet, dass du schon 1995 HTML-Seiten geschrieben hast…
A: Ja, aber das war dann auch mein einziger job-technischer Ausflug in die Internet-Welt. Später habe ich aus Spaß an der Freude eine Zeitlang in PHP programmiert, sogar eine funktionierendes Shopsystem damit geschrieben. Aber ein Developer ist an mir nicht verloren gegangen. Ich war aber eben drin im Netz. Und fand ja das Usenet viel spannender als den ganzen HTTP-Kram. Zumal das ja auch technisch der direkte Erbe der alten BBS-Welt war. Usenet gab es ja bereits in den Achtzigerjahren. Und dort spielte auch Ende der Neunzigerjahre die eigentliche Musik im Internet. Da gab es zu jedem Thema Newsgroups, in denen – durchweg auf Englisch – diskutiert wurde. Und natürlich die binären Usegroups, über die du jede Art Software kriegen konntest. Wenn die Normalos das auf breiter Front entdeckt hätte, wäre das das Ende der Softwareindustrie gewesen.

Software aus dem Usenet

F: Wie hat das denn funktioniert mit der Software aus Newsgroups?
A: Jemand hat auf irgendeinem Usenet-Server die binären Dateien abgelegt und einen entsprechenden Eintrag in einer Newsgroup verfasst. Hattest du die Adresse, konntest du den Kram runterladen und installieren. Ganz einfach. Das Tolle am Usenet ist ja bis heute, dass es extrem dezentral ist. Niemand weiß, wie viele Usenet-Server es weltweit gibt, niemand kennt alle Adressen, keiner weiß, welcher Content da um den Globus wabbert. Sicher ist, dass du auch heute noch alles, was digital und illegal ist, irgendwo im Usenet findest. Das Ding kann keiner überwachen, das System kann niemand mehr abschalten.

F: Aber warum nutzen denn so wenige dieses Usenet?
A: Weil es vom jeweiligen Provider abhängt, ob und welche Usenet-Gruppen du überhaupt sehen kannst. Und die kommerziell erfolgreichen Internetdienstleister hier in Deutschland, also Telekom, 1&1 etc., die bieten nur einen winzigen Ausschnitt an. Auch aus Haftungsgründen, denn wenn z.B. jemand eine handliche Atombombe nach einer Anleitung aus dem Usenet baut und damit beispielsweise Montabaur auslöscht, dann ist der Provider mit dran. So ungefähr. Aber das Usenet lebt und war um die Jahrtausendwende herum das Lebendigste, was du im Internet kriegen konntest.

F: Aber das änderte sich doch auch recht schnell, oder?
A: Ja, mit der Ausbreitung des WWW bzw. damit dass in kurzer Zeit Millionen Normalos ins Web kamen, änderte sich die Lage. Das goldene Zeitalter der Diskussionsforen und Chatgroups begann. Übrigens auch befeuert von AOL, das einen riesigen, fast unüberschaubaren Bereich solcher Foren und Gruppen einrichtete. Für uns Veteranen der Hacker-Zeit wurden diese Kommunikationskanäle immer wichtiger, je mehr uns der Sinn danach stand, aus dem DFÜ-Ghetto auszubrechen, also auch mit Otto und Else Normalkonsument zu kommunizieren.

Die Blütezeit der Foren

F: Hast du denn auch in solchen Foren und Gruppen mitgemacht?
A: Ja, klar. Zu allen meinen Hobbies: American Football, Motorrad, Heavy Metal. Wunderbare Diskussionen, tolle Tipps, so gut wie keine Trolle – paradiesische Zeiten. Irgendwo hatten wir eine Chat-Group namens „Feierabend“, da haben sich fast jeden Abend so um die zwölf Leute getroffen und haben sich nett unterhalten. Fast wie echt. Einer schrieb „Ich mach mir gerade ´n Tee. Wer will auch einen?“ Oder jemand hat bei sich zuhause einen Song gehört und das bekanntgegeben, und alle, die dieselbe CD besaßen, haben den dann auch aufgelegt. Von diesem netten Dutzend habe ich einige Jahre später genau eine Person in der Echtwelt getroffen. Völlig zufällig. Mit der bin ich jetzt verheiratet.

F: Na, herzlichen Glückwunsch – und das ganz ohne Partnerbörse.
A: Die Foren waren je nach Thema sowieso Kontaktbörsen. Ein Kollege von mir, Witwer, hat über ein Forum für Alleinerziehende eine Frau kennengelernt, die dann seine Gattin wurde. Nur war damals der Frauenanteil im Web sehr gering, schätze, dass vor 2000 maximal 20 Prozent der Surfer Damen waren. Das hat sich ja zum Glück geändert. Dafür ist der Umgangston nicht mehr so nett.

In der fünften und letzten Folge unserer kleinen Serie zum Online-Leben befragen wir Bernhard W. dazu, was ihm heute das Web bedeutet und was seiner Meinung nach ab etwa 2000 schief gelaufen ist.

Und hier die Links zu den anderen Folgen der Serie „Online-Leben“:
Online-Leben (1) – Am Anfang war der Bildschirmtext
Online-Leben (2) – Alles nur was für Hacker
Online-Leben (3) – Die kurze Ära Compuserve
Online-Leben (5) – Alles so vernetzt hier…

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