100%: The Circle – ein Leseergebnis

Ich möchte euch ein begeisterndes Buch vorstellen, dass sich mit einer aktuellen sozialen Entwicklung in einer spannenden und nachdenklich machenden Form auseinandersetzt.

Es gibt nur ein Problem: es hat nichts mit IT und sozialen Netzwerken zu tun. Und das ist insofern doof, weil ich mir eigentlich ausgerechnet ein Buch über eine fiktive Welt voller Social Media zur Rezension vorgenommen hatte.

Achja: und – man ahnt es schon – es gibt noch ein Problem: das begeisternde Buch ist nicht „The Circle“ von Dave Eggers. Denn das ist leider das Gegenteil…

Zunächst: wer mein Lese-Erlebnis über mehrere Prozentstufen nacherleben will, der kann das hier tun: Der Liveblog zum Lesen von „The Circle“

Hier eine echte Empfehlung: Die Entbehrlichen

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Vorsicht: nicht alle Bücher gibt es für´s EBook… Papiergefahr!

Aber um eure Zeit nicht zu verschwenden, will ich zuallererst ein Buch, das ich (weil von einem Freund empfohlen und geliehen ) sogar auf Papier gelesen habe, wirklich empfehlen. Es ist wie gesagt ein kurzer Roman, über ein soziales Thema unserer Zeit. Über die Frage, wie wir in einer älter werdenden Gesellschaft mit denen umgehen, die zum Beispiel Kinder kriegen und mit denen die zum Beispiel keine kriegen. Letztere sind „Die Entbehrlichen“. Sofern sie nicht besondere andere herausragende Dinge leisten oder einen wirklich wichtigen Job machen, den man auch mit über 50 noch machen kann. Ninni Holmqvist heißt die Autorin, die aus der Sicht ihrer Hauptfigur eine Welt beschreibt, in der solche für die Gesellschaft entbehrlichen Menschen in eine – äußerst luxuriöse und im Grunde fast schon heimelige – Anlage gebracht werden, wo sie einen gesellschaftlichen Zweck erfüllen: sie werden für psychologische und pharmazeutische Versuche eingesetzt und als lebende Organspenderbanken – bis zur sogenannten Endspende. Ich denke ich muss nicht erklären, was das ist und bedeutet. Beeindruckend ist, mit wie wenig Zorn und wieviel Einfühlsamkeit die Autorin beschreibt, wie es ist dort zu leben. Mit welch Fantasie im Detail und mit was für einem spannenden Plot und Aufbau sie das alles verbindet. Wie viele gut gezeichnete Figuren uns dabei begegnen und wie sie zu einem überraschenden Schluß kommt. Das ist toll. Warum ich das alles sage? Weil damit zumindest eine Buch-Empfehlung ausgesprochen ist. Und weil ich danach ganz einfach sagen kann: The Circle ist das genaue Gegenteil davon. Das ist schade. Wer will kann jetzt aufhören zu lesen. Oder meine Begründung und meine Gedanken zu „The Circle“ lesen…

Von nix kommt nix – ein Roman ins nirgendwo

Vermutlich werde ich auf der Buchmesse von Literaten ans Kreuz genagelt: aber ich kann mir nicht helfen. „The Circle“ war für mich ein Total-Ausfall. Platte, nichtssagende Figuren, traben, fahren und posten (Entschuldigung: zingen heißt das ja in der Welt von The Circle) durch eine nicht existente Handlung.

Heldin Mae ist so eine Art Kim Jong Il im virtuellen Cirlce-Rea Land – geliebte Führerin durch die Gedankenwelt der Firma (Foto-Quelle: Wikipedia)

Der Handlungsfaden ist eine dicke Kordel, die so klobig und kurz ist, dass sie für den Einsatz als Schlagstock auf jede fein gezeichnete Figur bestens taugt und dafür auch eingesetzt wird: eine junge Frau kommt zum Super-Social-Media Unternehmen und wird zur willigen Mitläuferin und Wegbereiterin des Bösen – oder so. Lasst mich nachdenken… Hmmm… Ne, das war es eigentlich. Am Ende kriegt sie die Chance die Welt zu retten, indem sie mit einem geheimnisvollen Fremden (dessen wahre Identität der Leser so ungefähr nach dem ersten Zusammentreffen beim Status  „20% gelesen“ ahnt) zusammenarbeiten soll. Warum sie? Tja, weiß ich nicht. Hat sich mir nicht erschlossen. Aber irgendwie soll sie die Einzige sein die das Ruder nochmal rumreißen kann, weil sie auf dem Weg durchs Unternehmen zur geliebten öffentlichen Figur geworden ist. So eine Art Kim Jong Il des digitalen – nur mit lauter freiwilligen Einwohnern in ihrem virtuellen Circle-Rea-Land. Und wenn man dann erfährt, wer der geheimnisvolle Fremde ist, versteht man noch weniger, warum er ihre Hilfe so unbedingt braucht…Egal…

Verdammnis – Wenn alte Männer über neue Technologie schimpfen…

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Stellt euch vor, wir hätten unserem Sozi-Lehrer aus den späten 70igern Computer, Facebook & Co gezeigt. Vermutlich wäre so ein Roman wie „The Circle“ rausgekommen…

Ich will euch den Rest gerne ersparen (und mir die Zet noch mehr dazu zu tippen) denn es ist auch so klar: aus meiner Sicht muss man das Buch nicht gelesen haben. Aber was mich wirklich ärgert, wenn nicht gar wütend macht ist: genauso stelle ich mir ein Buch vor, dass mein Soziologie-Lehrer aus den späten 70-igern geschrieben hätte, wenn er einmal im Unterricht von seinen Schülern (also von uns) von Facebook & Google erfahren hätte. Er hätte pädagogisch verständnisvoll genickt und dann versucht, sich einen Account anzulegen oder sich „Zugang zu diesem Internet zu verschaffen“. Er hätte dann wohl nach einigen Tagen Nicht-Verstehens und Nicht-Nutzens ausgerufen: „Mein Gott – ich muss die Welt warnen! Das ist das Grauen! Verdammnis.“, um schließlich mit seinem profunden Sechzentel-Wissen zuerst die anderen Lehrer, dann die Eltern rebellisch zu machen. Das wäre vermutlich auf fruchtbaren Boden gefallen. Und berauscht vom Erfolg seiner Kampagne hätte er dann einen  „aufrüttelnden“ Roman darüber geschrieben. Einzige Hoffnung meinerseits: er hätte den wohl unter Ausschluß der Öffentlichkeit im Selbstverlag rausgebracht. Und wäre nicht in Literaturzirkeln und ihren angekuschelten öffentlichen Medien begeistert besprochen worden. Unter Umständen nur weil man sich einig ist, dass das alles irgendwie gefährlich ist – und leider von all dem, um was es da geht auch nicht mehr weiß als der Autor. Dumm gelaufen…

Keine Zeit? Keine Lust? Keine Ahnung?

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Das Netz ist böse! -Mit so simplen Formeln wird man der Zukunft und ihren Chancen und Risiken nicht gerecht.

Dave Eggers ist offenbar dermaßen wenig Zeit geblieben das Buch zu schreiben oder er ist dermaßen überzeugt davon, dass er der einzig durchblickende Mensch derzeit ist (und alle anderen wie kleine Kinder oder Schüler garantiert ins Verderben laufen), dass er wohl dachte: ein einfacher platter Roman reicht, damit alle beginnen zu zittern. In „The Circle“ wird der Teufel in seiner simpelsten Version in quitschigsten Farben als naive Malerei an die Wand gepinselt. Und wehe man beginnt Fakten oder Plot oder das Verhalten von Menschen im Buch zu hinterfragen. Entschuldigung: aber das erinnert an Kirche und Wanderprediger im Mittelalter…

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Eine Masse von Menschen ist noch keine Massenbewegung… Ein Missverständnis im Roman…

Das meiste im Buch würde beispielsweise zusammenbrechen, wenn man nur die Zahlen mal miteinander in Relation bringen würde – wie viele Milliarden Menschen gibt es in der Welt des Buches und wie viele „Viewer“ hat beispielsweise die Heldin (die ja mit ihrem Live-Broadcasting die Weltmeinung bis zur höchsten Politik zu beeinflussen scheint) im Maximalfall? Und vor allem: wo ist der Rest der Menschheit? Querdenker, Macher, Politiker, Medien, Menschenrechtler? Von mir aus auch nur die kapitalistischen Gegenspieler des Circle… Wo sind die, die irgendwie ein Gramm Hirn mehr haben, als es braucht um „jaaaaahhhh suuuuper“ zu schreien, wenn der Typ im Fernsehen was Neues zeigt. Alle ausgewandert? In einem Raumschiff? Per Anhalter durch die Galaxis? Offenbar auf jedem Fall im Roman nicht anwesend. Denn das „Programm“ das Mae Holland ihren Viewern bietet und das ja offenbar mit seinem Einfluss den Schlüssel zu Wohl oder Wehe der Menschheit bietet, hat das Niveau eines virtuellen Homeshopping Kanals. „Liebe Zuschauer, ich freue mich das Max uns jetzt das neue Topf-Set vorstellen wird. Es ist unglaublich hochwertig…“

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24 Stunden Messefernsehen reicht nach Dave Eggers, um uns alle willenlos zu machen…

Sie trifft während des Buches praktisch nur Leute auf dem Circle-Campus, die an „unglaublich faszinierenden neuen Dingen arbeiten…“ und darüber reportiert Mae den größten Teil ihrer On-Air Zeit. 24 Stunden am Tag. Das soll reichen? Wie muss man sich das vorstellen? So eine Art CeBIT Berichterstattung zu jeder Tages- und Nachtzeit… Mit Gadgets und Erfindern, dazwischen ein bißchen Entertainment von Parties und Events? Dadurch werden wir zu Marionetten? Und niemand der aufsteht, eine andere Meinung hat und die Stimme erhebt? So kann nur jemand schreiben, der entweder keine Zeit hatte oder keine Lust sich wirklich mit einer Welt auseinanderzusetzen, die entstehen kann, wenn alle alles von sich geben und alle, alle Meßwerte und Daten von sich selbst permanent ins Netz stellen. Oder aber einer, der nun wirklich den kompletten Glauben an die Menschheit oder zumindest an einen Teil davon verloren hat – bis auf den an sich selbst.

Es steht außer Frage: diese Social-Media, alles vermessende und bewertende, jedes Ding teilende und kommentierende Welt hat Gefahren und Risiken. Natürlich. Aber es macht nicht nachdenklich beim lesen, wenn das, was wichtig wäre, dann in der Form eines „Frauenarzt-von-Quackenbrück-Groschenromans“ erzählt wird. Nur langweiliger und mit weniger Drama und Liebe.

Habt ihr wirklich bis hierher gelesen? Respekt! Okay – dann noch ein letztes…

Wir sind nicht all doof, Dave…

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Nur weil wir das Handy oft nutzen – einfach weil von den Nachrichten bis zu den Fotos alles darauf zu sehen ist – sind wir nicht dumpfbackige User die von platten Droh-Geschichten geschockt werden müssen.

Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, dass ich kritikloser Fan und Anhänger von Facebook, Google und Co bin. Oder für diese kuriose Welt zwischen Katzenvideo und „Zuerst-war-er-nur-ein-Verkäufer-im-Supermarkt – aber-was-dann-geschah-war unglaublich…“-Meldungen als Frontmann unterwegs sein möchte. Ganz und gar nicht. Aber ich weiß, dass es da mehr gibt als das, worüber wir uns auch mal immer wieder lustig machen oder worüber wir den Kopf schütteln. Und ich behaupte ich kann – nicht zuletzt wegen dem was ich die letzten 30 Jahre gemacht habe – recht gut entscheiden, wo und wie ich mit Chancen und Risiken umgehe. Ich bin kein Tech-Juhu-Patriot, nur weil ich aus einer Generation komme, in deren von Bud Spencer und Terence Hill wohlbehütete analoge Jugend der Computer digital geplatzt ist. Und ich möchte festhalten, dass viele Jüngere, die den Computer und das Netz als ganz normales Element ihres Lebens vorgefunden haben, keine Dumpfbacken sind, die nur noch in ihr Handy gucken.

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Wann kommt der Flieger an – ein Grund mehr auf das Display zu gucken. Vom Tablett oder Smartphone…

Es mag uns so vorkommen, dass sie das tun: aber nur weil wir früher auf die Uhr, in die Zeitung, in ein Buch, in die Post, in den Reiseführer, in den Fotoapparat oder auf den Zugfahrplan geguckt haben. Und das taten wir  X-Mal am Tag. Aber natürlich waren das bei uns noch unterschiedliche Dinge, die wir wissen wollten und auf die wir guckten. Heute sind es immer noch unterschiedliche Dinge, die wir wissen wollen – aber wir finden sie halt alle auf einem Display. Darum gucken wir da hin. X-Mal am Tag. Nein – ich finde nicht alles gut. Und nein, es ist nicht ohne Gefahren. Aber wenn man sich des so wichtigen Themas als Roman annimmt, noch dazu als bekannter, gefeierter Autor, dann darf man nicht das Risiko eingehen, der Sache aus Betroffenheit, Ablehnung, mangelndem Wissen oder aus Zeitmangel nicht Herr zu werden.

Insofern ist „The Circle“ schlimmer als nur ein schlechtes Buch. Es ist ein vergebene Chance ein wichtiges Thema gut, mit Abstand, Zeit und Überlegtheit, mit guten Bildern und eingängigen Beispielen, mit interessanten Figuren und einer spannenden Geschichte zu erzählen. Ein verpasste Chance Leser bis über den Schluß hinaus nachdenklich zu machen. Darum: lest lieber „Die Entbehrlichen“. Und wir hoffen, dass jemand anders, mit den Qualitäten dieser Autorin den Roman schreibt, den ich von Dave Eggers gern gelesen hätte.

 

8 Gedanken zu „100%: The Circle – ein Leseergebnis“

  1. Ich möchte dir nur in Bezug auf „Die Entbehrlichen“ uneingeschränkt beipflichten. Ich habe das Buch nach Empfehlung meiner Frau gleich nach dem Erscheinen gelesen und war überaus angetan. Der Plot ist gut, vor allem aber die Erzählweise der Autorin fesselt aufs Angenehmste. Dicke Lese-Empfehlung!

  2. Ja, sehr nett. Aber leider ist ihm kein vernünftiger Schluss eingefallen. Und so verläuft „The Circle“, wie Ringelnatz gesagt hätte, wie Kinderpipi. Dave Eggers wäre gerne der neue George Orwell, aber er springt leider deutlich zu kurz…

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