Mein lieber Kollege Christian Spanik ist bekanntlich ein ganz erfahrener TV-Mann. Wenn es um Live-Streams und Videoproduktionen mit dem Smartphone geht, ist er übrigens alles andere als ein Digisaurier. Im Gegenteil: Bei der praktischen Anwendung von digitalen Devices in Sachen Bewegtbild ist er nun schon lange ganz weit vorn. Dieser Tage schwärmte er auf Facebook von seinem neuesten Spielzeug: dem Osmo Pocket. Und lieferte gleich sichtbare Beweise für seinen Nutzen. Das Geheimnis des Gerätes, das kaum größer ist als ein Selfiestick ist der integrierte Gimbal. Der sorgt zunächst für absolut wackelfreie Videos und ist gleichzeitig die Bewegungssteuerung für die kleine Actioncam am oberen Ende.
Aber, greifen wir nicht vor. Denn nicht allen Normalnutzern ist der Begriff „Gimbal“ geläufig. Der ist in der Szene professioneller Kameraleute am geläufigsten und kam mit der Erfindung der Steadicam in den Fachjargon. Steadicam ist ein hochkomplexes System als Halterung für Film- und Fernsehkameras – im Deutschen nennt man so etwas ein „Schwebestativ“. Man kennt die Bilder von Kameraleuten, die so eine durchaus schwere Kamera vor dem Körper führen und damit verwacklungsfreie Bilder produzieren können. Gerade bei Sportübertragungen, aber auch beim Dreh von Actionfilmen kommen Steadicam-Systeme zum Einsatz.
Herzstück einer Steadicam ist die kardanische Aufhängung der eigentlichen Kamerabefestigung. Nun ist das englische Wort für eine solche kardanische Aufhängung eben Gimbal. Das Prinzip ist uralt und wurde vermutlich schon um 200 v.Chr. in Byzanz erfunden. Gesichert ist die Anwendung kardanischer Lagerung in China um etwa 180 n.Chr. Die Idee besteht darin, einen Gegenstand so zu lagern, dass er selbst dann seine Position im Raum hält, wenn sich die Welt um ihn herum dreht, wenn es wackelt und schaukelt – zum Beispiel auf einem Schiff. Und es war Leonardo da Vinci, der vorschlug, den Kompass auf einem Schiff kardanisch zu lagern, so dass dessen Oberfläche unter allen Umständen exakt waagerecht bleibt und zudem immer genordet. Hier ein wunderbares Erklärvideo zum Kreiselkompass.
Das funktioniert so, dass man den Gegenstand an einer Achse befestigt, die horizontal durch den Mittelpunkt eines Rings verläuft und lose darin gelagert ist. Dieser innere Ring selbst ist wiederum über eine vertikale Achse in einem umgebenden Ring gelagert. Sitzt auch der wieder auf einer um 90° gedrehten Achse im Gehäuse, haben wir es mit einem 3-Achsen-Gimbal zu tun. Stellen wir uns vor, dass der befestigte Gegenstand ein Smartphone ist, das exakt senkrecht zum Erdboden eingespannt ist, wird deutlich, wozu die kardanische Lagerung gut sein kann.
So richtig lange befassen sich digitale Videografen noch nicht mit Gimbals. Tatsächlich waren es die Ingenieure aus dem Drohnen-Business, die auf das Prinzip der kardanischen Aufhängung gekommen sind. Denn schließlich sollte die Drohnenkamera nicht wie wild mit dem Flug des Gerätes durch die Gegend wackeln, sondern – je nach Bedarf – exakt nach unten oder nach vorne oder in einem ganz bestimmten Winkel filmen. Am wichtigsten bei einem Gimbal ist aber die Reaktionsschnelligkeit; was nutzt es, wenn die Kardanringe und -achsen erst reagieren, wenn die Drohne oder der Videograf schon die nächste Kurve nimmt? Da sind die erwähnten Ingenieure auf die Idee gekommen, sich nicht auf die Gravitation und die Fliehkräfte zu verlassen, sondern auf Sensoren und Motoren.
Und das ist der Stand der Technik: Die Kamera bzw. das Smartphone sitzt in seiner Halterung, die über je einen winzigen und schnellen Stellmotor an jeder Achse bewegt wird. Das funktioniert bei den großen und teuren Drohnen mit atemberaubender Geschwindigkeit, und auch bei den Hobby-Coptern ist an schon sehr, sehr weit. Was lag also näher, als die Technik auf Handgriffe für Smartphones zu übertragen? Führend unter den Anbieter ist nicht ganz unerwartet der Drohnenhersteller DJI mit seinem Osmo Mobile 2. Daneben bieten einige chinesischer Hersteller ebenfalls sehr gute Gimbals für Smartphones und Actioncams an.
Weil in den Dingern ohnehin ganz schön viel Intelligenz steckt, haben die Entwickler bei (fast) allen weitere tolle Features integriert. Die heißen nicht bei jedem Hersteller gleich, leisten meist dasselbe. So meint Active Track beim Osmo-Teil, dass man einen Gegenstand anwählen kann, dem die Kamera dann automatisch folgt; das gibt es bei den Mitbewerbern auch unter anderen Namen. Ebenfalls Standard sind verschiedene Zeitlupen- und Zeitraffer-Modi sowie eine unterschiedlich geartete Panoramafunktion. Automatisches Zoomen gehört bei den meisten Gimbals zu den Features, und einige bieten dynamisch einstellbare Belichtungszeiten und ähnliches an.
Über den praktischen Nutzen, das muss so klar gesagt werden, entscheidet aber die zugehörige App. Zwar verfügen alle Gimbals über Bedienelemente am Handgriff, deren Anwendung mehr oder weniger schnell und intuitiv erlernbar ist, aber die ganze Fülle der Möglichkeiten erschließt sich erst über die App auf dem (per Bluetooth) verbundenen Smartphone. Die Qualitätsunterschiede sind gewaltig und sollten bei einer Kaufentscheidung (Bewertungen studieren!) unbedingt berücksichtigt werden. Drei Devices haben wir in der Praxis getestet: das bereits erwähnte Osmo Mobile 2, das Freevision Vilta Mobile und das Zhiyun Smooth 4. Die Dinger bekommt man für einen Straßenpreis von um die 120 Euro. Eingesetzt haben wir jeweils ein iPhone 7, ein älteres LG-Modell und ein Huawei P20 pro.
Um es kurz zu machen: Jeder der ausprobierten Gimbals konnte auf die eine oder andere Art überzeugen. Angeschafft wurde schließlich der Vilta-M, der beim örtlichen Fotohändler für knapp 115 Euro zu haben war. Dort konnte man ihn auch praktisch ausprobieren. Den Zhiyun Smooth 4 haben wir beim Amazon bestellt und nach kurzem Test wieder zurückgeschickt, obwohl uns dieses Gerät auch ganz gut gefallen hat. Den Osmo Mobile 2 mussten wir bei einem Kollegen ausleihen, weil bei diesem Teil ernsthafte Lieferzeiten anfallen, die wir nicht aussitzen wollten. Womit wir wieder beim Mit-Digisaurier Christian und seiner Osmo Pocket sind, denn auch dieses Device ist aktuell nicht leicht und vor allem nicht schnell zu bekommen. Wenn unser Live-TV-Experte aber derart schwärmt, dann wird was dran sein an dem Ding – siehe sein Video (Facebook-Link).