Eigentlich gehört der britische Mathematiker Alan Turing zusammen mit der Computerprophetin Ada Lovelace in die erste Reihe der Informatik-Ruhmeshalle – beide sind die wahren Vordenker*innen all dessen, was wir heutzutage mit Computern anstellen können. Neben diesen beiden Gigant*innen erscheinen Charles Babbage und auch Konrad Zuse lediglich wie Bastler. Denn Turing und Lovelace haben die theoretischen Grundlagen für die Digitalisierung gelegt. Beide haben aufregende Leben gelebt, für Alan Turing mit einem tragischen Ende.
Denn der hochbegabte, 1912 in der Grafschaft Cheshire geborene Mann war schwul. Homosexualität wurde aber bis über die Fünfzigerjahre hinaus in Großbritannien als „grobe Unzucht und sexuelle Perversion“ strafrechtlich verfolgt. 1952 verurteilte man Turing zur sogenannten „chemischen Kastration„, einer Dauerbehandlung mit Östrogen, die bei ihm starke Depressionen auslöste. Am 7. Juni 1954 starb er an einer Cyanid-Vergiftung; das Gift hatte er durch Verzehren eines Apfels aufgenommen. Auch wenn es nicht nachgewiesen werden konnte, ist davon auszugehen, dass Turing auf diese Weise Selbstmord begangen hat.
Erst 1968 wurde die britische Gesetzeslage zur Homosexualität so geändert, dass diese sexuelle Ausrichtung nicht mehr als Straftat bewertet wird. Unvorstellbar, aber wahr: Es dauerte bis 2009bis sich die britische Regierung zu einer offiziellen Entschuldigung für die Behandlung Turings durchrang, eine Begnadigung wurde aber noch 2011 trotz einer Petition abgelehnt. Erst am Weihnachtsabend 2013 verfügte Königin Elisabeth II. postum die Königliche Begnadigung aus. Und das gegenüber einem Mann, dessen Wirken rund um die Entschlüsselung deutscher Geheimbotschaften am Sieg der Alliierten über Nazideutschland beteiligt war.
Überhaupt: Ins öffentliche Bewusstsein geriet Turing erst nach 1972 als die Dokumente rund um die Enigma-Entschlüsselung teilweise von der Geheimhaltung befreit wurden. Das gut 36 Jahre nachdem dieses Genie mit seinem Werk „On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem“ die mathematisch-theoretischen Grundlagen für die Informatik, wie wir sie heute kennen, gelegt hat. Es dauerte weitere zehn Jahre bis im Rahmen der ersten Diskussionen zum Thema „Künstliche Intelligenz“ der sogenannte „Turing-Test“ entdeckt wurde; Turing hatte eine Methode entwickelt, die es möglich machen sollte zu unterscheiden, ob ein Gesprächspartner, mit dem man keinen optischen und akustischen Kontakt hat, Mensch oder Maschine ist.
Immerhin war da in Kreise der theoretischen Informatiker bereits die Turingmaschine als mathematisches Konstrukt zur Formulierung von durch Automaten zu lösenden Aufgaben angekommen. Eine solche Turingmaschine besteht rein theoretisch aus einem Endlosband mit sequentiell angeordneten Feldern, die entweder ein Zeichen aus dem zugrundliegenden Zeichensatz enthalten oder leer sein kann. Ein ebenfalls theoretischer, durch Regeln gesteuerte Schreib-Lesekopf kann nun ein Feld auslösen oder beschreiben; je nachdem, von welcher Art Feld der Kopf kommt, entsteht ein unterschiedlicher Zustand. Die Kombination aus Zustand und Inhalt des Feldes bestimmt den nächsten Schritt; sind alle diese Kombinationen abgearbeitet, endet das Programm.
Dieses Gedankenexperiment führt dazu, Algorithmen wie sie Ada Lovelace skizziert hat, mathematisch formulieren zu können und damit allgemeingültig zu machen – ein Schritt, der die Entwicklung von Programmiersprachen überhaupt erst möglich gemacht hat. Und das galt und gilt seit Beginn der Programmierkunst bis hinein in der Ära der Quantencomputer. Würde der Vergleich aus verschiedenen Gründen nicht so sehr hinken, müsste man Alan Turing als den Einstein der Informatik bezeichnen. Apropos: Turing war ein Wunderkind, das sich nicht nur das Lesen innerhalb von drei Wochen selbst beigebracht, sondern die allgemeine Relativitätstheorie mit zehn, zwölf Jahren nicht nur verstanden hatte, sondern die für weniger schlaue Menschen verständlich beschrieben konnte.
Legendär und als wesentlicher Erzählstrang im Biopic „The Imitation Game“ mit dem wunderbaren Benedict Cumberbatch als Turing präsentiert ist bis heute dessen Beteiligung am streng geheimen Projekt „Ultra“ in Bletchley Park in den Jahren 1940 bis 1943. Ziel des Projekts war es, die geheimen Funksprüche der Wehrmacht, die mithilfe der Chiffriermaschine „Enigma“ verschlüsselt waren, zu knacken. Während die Führung des Teams zunächst versuchte, dies mit den damals bekannten Methoden der Kryptografie zu lösen, erdachte Turing eine kryptanalytische Maschine, die Turing-Bomb. Das auf der Basis seiner Überlegungen gebaute elektromechanische Gerät war in der Lage, aufgefangene Botschaften mit so großer Geschwindigkeit zu analysieren, dass die vollständige, manuelle Entschlüsselung in kurzer Zeit möglich wurde.
Spätestens mit seiner Rolle in diesem Projekt kumuliert aber auch die Wahrnehmung als Sonderling – Turing war kaum fähig zur Teamarbeit, hatte erhebliche Defizite im Sozialverhalten und stieß die Menschen reihenweise vor den Kopf. Keine seiner bahnbrechenden Entdeckungen hat er je gemeinsam mit Kolleg*innen gemacht und formuliert. Heute wissen wir, dass die Furcht, seine Homosexualität könnte entdeckt werden, sein ganzes Leben außerhalb der Forschung bestimmte. Übrigens: Ganz nebenbei erfand Alan Turing 1952/53 das Computerschach, indem er praktisch alle Verfahren (theoretisch) formulierte, die bis auf den heutigen Tag in Schachprogrammen zur Anwendung kommen.
So gesehen ist die Herausgabe der neuen 50-Pfund-Note nach dem Royal Pardon durch Queen Elizabeth das Mindeste, was Großbritannien für diesen überlebensgroßen Denker tun konnte.
[Bildnachweis – Titel: The Bank of England; Turingmaschine: GabrielF via Wikimedia unter der Lizenz CC BY-SA 3.0; Bletchley Park: The Bletchley Park Trust; Turing mit 16: public domain via Wikimedia;]
Alan Turing ist ein Genie!