Während Bill Gates und vor allem Steve Jobs zu Helden der Popkultur wurden, stand der Lotus-Gründer Mitch Kapor nie besonders im Licht der Öffentlichkeit. Dafür wird er bis auf den heutigen Tag von Programmierer und Softwarenentwicklern als entscheidender Förderer der Open-Source-Kultur bewundert. Das gilt auch für Datenschützer jeglicher Couleur, weil Kapor eben auch Gründer der EEF war, der Organisation zum Schutze der privaten Rechte, besonders in den Bereichen Privatsphäre, Meinungsfreiheit, freiem Zugang zu Information und der Verantwortung der Medien – dazu später mehr. Wer schon in den frühen Achtzigern am Computer zu arbeiten gedachte, wird Kapor aber vor allem als Erfinder von Lotus 1-2-3 kennen, der Tabellenkalkulation, die vor MS Excel den Markt beherrschte. Dass auch die Idee des persönlichen Organizers auf dem PC von ihm stammt, wissen dagegen nur wenige…
Die Entstehungsgeschichte von Lotus 1-2-3 (das seinen Namen dem Spruch „as easy as 1-2-3“ verdankt) ist typisch für ihre Zeit. Damals entstanden die Grundideen der verschiedenen Anwendungstypen, und der jeweils erste Vertreter gab die grundlegenden Methode vor. Bei der Tabellenkalkulation war dies VisiCalc, eine in Assembler für 6502-Prozessoren geschriebene Anwendung, die zunächst auf Timesharing-Systemen lief, dann aber auf den Apple II portiert wurde und dann massenhaft verkauft wurde. Im Kern war Lotus 1-2-3 ein VisiCalc-Klone; pikant an der Sache: Hauptprogrammierer von 1-2-3 war ein ehemaliger VisiCalc-Entwickler, und auch Mitch Kapor war für kurze Zeit VisiCalc-Angestellter. Der entscheidende Ansatz bei 1-2-3 war es, sich zunächst auf ein Betriebssystem, nämlich MS-DOS zu konzentrieren und so am erwarteten Erfolg des IBM PC teilzuhaben.
Live habe ich Mitch Kapor zweimal erlebt. Es wird zur Systems 1985 in München gewesen sein, als wir zu einer Suite-Gespräch mit ihm als Lotus-Boss eingeladen waren. Es ging wohl um das Release 2 der berühmten Tabllenkalkulation 1-2-3. Wir saßen einem gelassenen CEO gegenüber, der in Begleitung einer PR-Verantwortlichen in diesem unpersönlichen Raum in einem nicht weiter erwähnenswerten Hotel saß. Für die neue Version von 1-2-3 interessierten sich die Anwesenden Journalisten und Experten weniger, es ging um Jazz. Genau so hatten die Lotus-Marketing-Leute die 1-2-3-Version für den Apple Macintosh getauft … und damit einen der größten Flops der Firmengeschichte erzeugt. Warum man auf den bewährten Namen verzichtet hatte, warum man fast 600 US-Dollar für das Paket haben wollte und weshalb man das ganze auf vier kopiergeschützten Disketten verkaufen wollte, bleibt eines der größten Rätsel dieser Zeit.
Zum zweiten und leider letzten Mal erlebte ich Mitch Kapor anlässlich der Comdes 1987 in Las Vegas – eine Anekdote dazu gab es hier beim Digisaurier schon einmal. Es ging um die Präsentation eines ganz neues Typs Software, nicht um das erste 1992 marktreife Programm Lotus Agenda. Das Ganze fand in einem Club statt. Auf der Tanzfläche saßen gut 120 geladene Gäste auf unbequemen Stühlen, während der Lotus-Chef auf der Bühne versuchte, das Prinzip zu erklären. Verstanden hat es wohl kau jemand; jedenfalls findet man genau einen Bericht von der Comdex, in dem diese Lotus-Innovation vorkommt. Es war Kapors eigene Idee, eine Anwendung zu schaffen, mit der Menschen ihr Leben organisieren können – jenseits von Terminkalender und To-do-Liste. Allein der Einfall, die gesammelten Kontaktdaten zu integrieren, war völlig neu … und überforderte 1987 sogar die Experten.
Tatsächlich aber war Lotus Agenda, das später als Lotus Organizer ein zweites Leben begann, der allererste PIM, also „Personal Information Manager“ und damit Vorbild all dieser Anwendungen und Apps, die wir heutzutage benutzen, um das tägliche Leben im Griff zu behalten. Überhaupt war die Firma Lotus nach dem großen Erfolg mit 1-2-3 seiner Zeit immer voraus oder lief hinterher. So kann man das erste Lotus Symphony für DOS von 1985 einerseits als erstes Office-Paket überhaupt sehen, aber auch als hilfloser Versuch, mit den Algorithmen einer Tabellenkalkulation auch Textverarbeitung und Datenbank zu simulieren. Oder Lotus Notes: Das erste dokumentenbasierte Datenbanksystem und erstes Kollaborationswerkzeug für mittlere und große Unternehmen, das noch heute als IBM Notes weit verbreitet ist.
Apropos: Es wird Notes gewesen sein, dass Big Blue IBM dazu brachte, Lotus 1995 für 3,2 Milliarden US-Dollar zu kaufen. Dass man dann auch die weniger beliebten Softwarepakete mitnahm, aufhübschen ließ und den eigenen sowie den Compaq-Computern beipackte, dürfte eher eine Art Restverwertung gewesen sein. 1995 bewahrheitete sich leider auch der Verdacht, die NSA habe eine Backdoor in Notes einbauen lassen, um bei Bedarf an relevante Dokumente zu kommen. Da war Mitch Kapor schon längst nicht mehr an Bord. Schon im Juli 1986 war er als CEO zurückgetreten und wirkte nur noch als Freelancer im Agenda-Team und als Berater. Ende 1989 war er dann ganz raus.
Immerhin hatte er mit Lotus 1-2-3 die „Killer-Applikation“ geschaffen, die letztlich dem MS-DOS-PC in der Geschäftswelt den Durchbruch bescherte. Nun war er noch nicht einmal 40 und durch den Verkauf seiner Anteile ziemlich wohlhabend. Aus dieser Position gründete er gemeinsam mit John Perry Barlow die Electronic Frontier Foundation (EFF), die erste Nichtregierungsorganisation, die sich mit den Grundrechten im Informationszeitalter befasste und noch heute befasst. In dieser Eigenschaft betreibt die EEF Lobbyarbeit und PR, vertritt aber auch Menschen, deren Grundrechte im digitalen Raum beeinträchtig werden, vor den Gerichten. 1996 war es sein Kumpel John Perry Barlow, der die legendäre Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace verfasste, auf der noch heute alle Initiative zur Informationsfreiheit basieren.
Überhaupt war und ist Mitch Kapor, den man in diesem Zusammenhang immer gemeinsam mit seiner Frau Freada Kapor Klein nennen muss, ein politischer Mensch und ein Philantroph, der seit Jahrzehnten immer wieder Geld in soziale Projekte steckt und diese auf die eine oder andere Art fördert. Zusammen mit Freada wirkt er als Risikokapitalgeber, im Umfeld des Kapor Center for Social Impact in Okaland vor allem mit dem Ziel, mehr Frauen, angehörige von Minderheiten und Menschen mit Behinderungen in die Unternehmen der IT zu integrieren.
Nach seinem Ausstieg bei Lotus und ohne je wieder in ein klassisches Softwareunternehmen einzutreten, engagierte sich Kapor vor alle im Bereich der Open-Source-Bewegung. So gründete er 2001 die Open Source Applications Foundation (OSAF) als Gruppe, die aus den Resten seiner Lotus Agenda einen Organizer für jedermann formen sollte – vor allem als freie Konkurrenz zu Microsoft Outlook. Das Projekt namens „Chandler“ überlebte bis 2009, wurde dann aber aufgegeben. Anders ging es der Mozilla Foundation, deren Vorstandsmitglied Mitch Kapor ab Gründung im Jahr 2003 und 2010 war. Allerdings wirkte er dort eher als Aushängeschilder denn als aktiver Betreiber der Sache. Was ihn geritten hat, auch bei Linden Lab, den Entwicklern der 3D-Welt Second Life einzusteigen, wird sein Geheimnis bleiben.
Heutzutage kümmern sich Freada und Mitch Kapor vor allem um ihre Venture-Capital-Firma und das erwähnte Kapor Center for Social Impact. Immer wieder wird Kapor eingeladen, Gastvorträge und -vorlesungen oder Keynotes zu halten, und immer wieder bekennt er sich bei solchen Gelegenheiten zu den Prinzipien der Informationsfreiheit, der Gleichberechtigung in der IT-Industrie und zum Open-Source-Gedanken. Am 1. November wird er 67 Jahre alt … und hat noch viel vor: