Webvideopreis: Marmeladen-Oma kocht Webvideoszene ein

Vor gar nicht langer Zeit, an einem gar nicht weit entfernten Ort: beim Webvideopreis in Düsseldorf. Da habe ich mich gefragt: Hätte Julien das Potential erkannt – auch wenn es nicht seine Mutter ist? Hätte Dagi sie ungeschminkt vor die Kamera gelassen? Hätten Dennis und Benni sie ins World Wide Wohnzimmer eingeladen? Ich meine bevor ihr fast 4000 Leute aus der Youtube Szene stehende Ovationen schenkten…  Die Marmeladen-Oma ist 85. Und ich finde beim Webvideopreis hat sie die Webvideoszene ganz schön eingekocht. Rezept: Man nehme eine Kamera, eine gute Idee und eine Portion back-to-the-roots. Also: wieder zurück in eine besondere Art der Freiheit! Statt nach vorne in die Perfektions-Sackgasse… Ich glaube darum ging es in Düsseldorf beim Webvideopreis 2017. Frage: ist der Webvideopreis eine Fessel?

Schöne Momente – im Hintergrund beim Webvideopreis 2016 mithelfen. Besonders als Digisaurier ;-)

Seit einiger Zeit begleite ich nun den Webvideopreis. Zum Beispiel letztes Jahr als Macher im Hintergrund. Dieses Jahr als Zuschauer. Ich kann also durchaus und im wahrsten Sinne aus verschiedenen Perspektiven drauf gucken. Und dabei ist nicht nur mir aufgefallen: bei immer mehr der Nominierten und erst recht bei den Gewinnern mischen – mehr oder weniger gut erkennbar –  große Namen mit. Zum Beispiel ARD und ZDF.  Oder auch große Produktionsfirmen. Und die Mannschaften hinter den Produktionen werden auch immer größer. Redaktionen mit 20 Mann plus X sind keine Seltenheit mehr wie es scheint. Sagt mal: was geht denn da ab? Ganz einfach: eine krasse Spaltung der Szene.

Sie ist das, was die Webvideoszene mal war. Die Marmeladenoma. Und genau dafür wurde  sie beim Webvideopreis 2017 – wie man im Video sehen kann – genau von dieser Szene gefeiert. Mit stehenden Ovationen. Ein großer Moment  – entstanden aus einem kleinen Format.

Die Webvideoszene spaltet sich – und zwar heftig

Ich denke also die Webvideoszene spaltet sich. Ob die Spaltung gut oder schlecht ist? Kann ich so pauschal nicht sagen. Aber nötig ist sie.  Das glaube ich ganz sicher. Nur: sie darf daran nicht zerbrechten oder gar kaputt gehen! Bereits im letzten Jahr dachte ich so als Digisaurier – der ja nun auch schon einige Fernsehjahrzehnte hinter sich hat – bei mir:

„Na – die fahren auch immer mehr Produktionstechnik auf in der Youtubeszene. Ob das gut geht?“

Digisaurier-Gedanke

Alleine der Schnitt-Aufwand hinter einem „einfachen“ Julien Bam Video ist ein Hammer. Und die Cutter sind großartig! Die Menge der Kameras und Effekte bei allen Preisträgern war Legion. Und die Menschen die sie einsetzen machen einen tollen Job. Bis hin zur 360-Grad Video Umsetzung. Das Ganze gepaart mit einem Ideenreichen Protagonisten, pfiffigen Mannschaften die sich mehr als nur krumm legen, die bis zur Selbstausbeutung und darüber hinaus Tag und Nacht an Computerarbeitslplätzen oder hinter Kameras verbringen. Das ist toll. Und: es ist ein Jagdrevier. Für die etablierten Player. Zum abwerben…

In diesem Video sieht man nicht nur den Aufwand – Julien Bam macht auch gleich am Anfang das Thema Aufwand hinter den Kulissen zum Inhalt. Ergebnis: nach 3 Tagen über 2 Millionen Abrufe…

Das Feld der Youtube-Profi-Produktionen ist das Jagd-Revier der großen Player

Die Szene der Youtuber die mit all diesem Aufwand Video machen ist also ein Jagd-Revier. Ein Platz zum anschleichen und abwerben. Erstmal hat das viel Gutes: Talente aus der Webvideoszene werden so schnell  erkannt. Vielleicht sogar gefördert. Kriegen noch bessere Technik von den großen Playern und Produzenten. Denn in Sachen Technikeinkauf haben die die finanziellen Mittel. Und die, die man auf diese Weise findet, abwirbt und ins klassische System holt, die dürfen dann im „großen “ mitmischen. Zum Beispiel im Fernsehen oder so.  Das ist die gute Seite.

Allerdings zahlen die so Abgeworbenen auf Sicht auch einen Preis. Denn vermutlich kriegen sie zwar mehr, aber dennoch deutlich schlechtere Verträge als die bisherigen Redakteure (=Creators) bei Sendern und Produktionsfirmen. Das wird für Ärger sorgen. Sie müssen unter Umständen ihre vertrauten Teams und Umgebungen verlassen – weil nicht Platz für alle ist. Das schafft schnell schlechte Atmosphäre. Aber dennoch machen sie sich erstmal engagiert ans Werk. Machen Karriere. Doch die Frage ist: entsteht so weiterhin und auch in Zukunft in ausreichendem Maß eine junge, neue Szene. Ist das der Platz für Creation á la „einfach mal machen“? Der Raum für neue, schräge Wege? Ne – weil es einen ganz alten Satz gibt der gestern, heute und morgen stimmt, wenn es um Ideen geht:

„Not macht erfinderisch. NOT! Nicht Geld.“

Ein Satz für TV von gestern, Macher von Heute und Webvideoszene von morgen

Das einzige Mittel gegen die große Produktionslüge „We fix it in Post Production“ ist: Mangel. Alles was ich vor Ort und spontan lösen muss, weil es nicht in der Post-Production von Schnitt bis Special-Effects gelöst werden kann, all das fordert und fördert Ideenreichtum. So entstehen neue Lösungen. Neue Wege etwas zu machen. Also genau das, was der Webvideopreis eigentlich auszeichnen will. Und was er in all den perfekten Produktionen die wir in den letzten Jahren sehen nicht verlieren darf. Sonst wird es nämlich der deutsche… äh… Fernsehpreis. Der dann vermutlich pietätvoll zu „Deutscher Bewegtbildpreis“ umbenannt wird. Und ich glaube: ein Teil der Webvideoszene will das sogar. Okay – aber keinesfalls für alle. Das ist meine große Bitte an die Szene.

Was die Webvideozene von Steven Spielberg lernen kann

Mangel schafft Erfolg? Ja. Steven Spielberg hat das schon erlebt: bei „Der weiße Hai“ – weil die Technik der Plastikmonsters meist bei den Dreharbeiten versagte, konnte der Hai nur selten wirklich auftauchen. Also kaum sichtbar sein. Weil die Drehzeit schon weit überschritten war, entschied sich Spielberg für eine Lösung die Filmgeschichte machte. Er machte einen Haifilm mit ganz wenig Hai. Die subjektive Kamera unter Wasser, die die Opfer aus der Hai-Perspektive zeigte ersetzte ihn. Und das war viel besser! Dazu eine gute Musik: fertig war die Problemlösung. Und es entstand ein Stück Filmgeschichte. Wer die späteren Follow-Ups vom weißen Hai sieht wird verstehen was ich meine: man sieht zwar da (dank besserer Technik) viel mehr Hai. Aber die Spannung des ersten Teils halten sie alle nicht. Und wer das als Einzelfall abtut, dem sei Steven Spielbergs früher Film „Duell“ empfohlen. Mit noch weniger kann man kaum Spannung produzieren.

Und nun kommen die Marmeladen-Oma und ihr Enkel ins Spiel. Die machen, was Steven Spielberg machte: sie nehmen was sie haben und ordnen diese Mittel einer klaren und offenbar funktionierenden Idee unter. Ganz ohne Drohne, ausgefeilten Cut und sonstigem Aufputz. Und bringen damit fast 4000 Menschen im ISS-Dom zum aufstehen und applaudieren. Fast 4000 die mal genauso angefangen haben. Sie applaudieren nicht der Marmeladen-Oma. Sie applaudieren ihrer eigenen Geschichte. Ihrer Vergangenheit. Die aber aus meiner Sicht auch ihre Zukunft sein muss!

„Geld gewinnt Preise – das sollte nicht der Weg beim Webvideopreis sein. Und auch nicht der Weg der Webvideoszene. Denn wir brauchen eine Webvideoszene und nicht am Ende nur noch Establishment.“

Digisaurier Gedanke

Webvideopreis 2017
Dimi, Markus und der Digisaurier beim Webvideopreis 2017. Schön war es – aber nachdenklich hat es mich auch gemacht

Wenn ich zwei Leute kennengelernt habe, die verstehen, dass die Webvideoszene an einem Scheideweg ist, dann sind das Dimi und Markus. Und sie verhalten sich auch so  – was Ihnen und der Academy nicht nur Freude und Freunde bringt. Und mit Jan Winter haben sie offenbar auch eine Academy Präsidenten der das auch so sieht. Zumindest nehme ich das aus einem nächtlichen Gespräch mit ihm in der Award-Nacht bei der After Show Party mit. Und wenn ich mir so die Wortmeldungen von den beiden Webvideopreis Machern in den letzten Wochen nach dem WVP17 anschaue, dann glaube ich auch, dass sie bereits die Weichen dafür stellen. Auch wenn das kein leichter Weg werden dürfte.

Es ist keine Frage, dass man den Leuten die uns auf Youtube auf so hervorragende Weise unterhalten in einer Gala mit allem was dazu gehört, mit Feierlichkeit und Pomp den roten Teppich ausrollt. Un es ist keine Frage, dass technisch und inhaltlich herausragende Produktionen hier auch gefeiert werden sollen. Die Preisträger hatten und haben es verdient.

Das darf aber alles nicht bedeuten, dass am Schluss nur bestimmte Produktionen überhaupt noch die Chance haben zu gewinnen. Die, die ebenfalls „groß“ sind und immer mehr von klassischen Produktionsstukturen im Hintergrund befeuert werden. Und um es klar zu sagen: eine Kategorie „Newcomer“ reicht dafür nicht aus, hier das was die Szene ausmacht am Leben zu halten und zu feiern.

Die Marmeladen-Oma hat die Szene eingekocht – die Essenz: Form follows function

Die alte Dame mit Ihren 85 hat das System vom Kopf wieder auf die Füße gestellt an diesem Abend. Sie hat gemeinsam mit ihrem Enkel das gezeigt und in Erinnerung gerufen, worum es bei allen Produktionen geht die „Preisverdächtig“ sind. Um die Idee. Und wenn die daran scheitert, dass man nicht irgendein bestimmtes Technik-Gadget hat, ist es vermutlich noch nicht die richtige Idee.

„Form follows function  – nicht neu, aber gut. Auch für den Webvideorpeis.“

Digisaurier Gedanke

Darum darf der Webvideopreis auch nicht an alle die sich in der Szene auf den Weg machen durch die Gewinner vor allem die Botschaft aussenden: wenn Du nicht mindestens dieses Budget, diese Mannschaft, diese Tricks, diese Technik hast – dann hast Du keine Chance. Denn genau das war die Botschaft die über lange Jahre die TV-Branche und die großen Player ausgesandt haben. „Wir machen die Stars.“ Und das ist die Botschaft mit der genau diese Marktteilnehmer sich nun aufmachen in ihre neuen Jagdgründe. Auch weil sie die Chance sehen die Gatekeeper-Funktion zurück zu bekommen. Wie war das alte lateinische Zitat: „Was immer es sein mag, ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen.“

Es ist völlig in Ordnung wenn auch die großen Player, die großen Sendeanstalten, die großen Marken von dieser Szene profitieren. Es soll sogar so sein. Nur darf eines nicht passieren: dass sie dabei die Szene austrocknen. Funk – das junge Angebot von ARD und ZDF-  ist entstanden, weil es den Druck der Webvideoszene gab. Und das tolle was die Mannschaft dort bei Funk macht, entstand nebenbei bemerkt auch aus Mangel: aus dem Mangel der Sendefrequenz die die Gremien den Sendern nicht gaben! Was für ein Glück! Ein Geschenk der Gremien sozusagen.

UPDATE 20.06: Weil jetzt mehrfach gefragt wurde: ja – wir haben auch einen Youtube-Kanal. Und ja wir machen auch Livestreaming. Und nein: ich finde wir machen das noch nicht gut genug. Aber ich überlege derzeit ob wir zu genau diesem Thema „Szene in Gefahr“ mal die nächste Zeit eine Sondersendung machen. Denn wir machen da so Sachen mit Reden, Gästen und Filmen und so. Nannte man früher Magazin ;-) Beispiel – für alle die es interessiert.

 

Lasst euch nichts schenken – macht euer Ding!

Die Webvideoszene soll sich nichts schenken lassen. Sie muss sich nichts schenken lassen. Braucht niemanden der sie groß macht. Sie ist groß. Und genau darum muss sie stattdessen die Chance die zum Beispiel der Webvideopreis bietet ergreifen. Denn er ist, wenn alle mitziehen – keine Fessel. Er kann vielmehr den nötigen Freiraum schaffen und verteidigen. Er macht aus kleinen Produktionen große Momente – das hat die Marmeladen-Oma uns allen vorgeführt. Und in dem Moment waren wir glaube ich alle stolz, dabei zu sein. Da war es eine Webvideoszene. Und das war schön so.

UPDATE 20.06: Man kann die Dinge auch ganz anders sehen und finden, dass der Preis für die Marmeladen-Oma eine völlig falsche Entscheidung war. Einer der Beans (Eddi) definiert seine Sicht auf diese Entscheidung in diesem Video ca. ab Minute 23:

Bildet euch eure Meinung – ich bin gespannt auf Kommentare.

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