Boris Becker: Bin ich schon drin

Fast vergessen (18): Was wurde eigentlich aus AOL?

Das Schicksal des ehemaligen Internet-Giganten AOL steht – wie das von Yahoo – in vielerlei Hinsicht für die Geschichte des weltweiten Netzes. Und zwar weniger in technischer Hinsicht, sondern viel mehr in Business-Dingen. Denn das, was AOL mit seiner legendären CD ab 1995 bot, war der erste Versuch, mit dem WWW so richtig Geld zu verdienen. Dabei hatte sich America OnLine schon ab 1990 als Konkurrent von Compuserve versucht, also als Mail-Service mit buntem Content-Nebenprogramm.

Was genau den rapiden Niedergang bis zum heutigen Dasein als Content-Schleuder niedriger Güte von AOL bewirkt hat, ist umstritten. Die meisten Auguren nennen die im Jahr 2000 durchgeführte Fusion mit dem Medienkonzern Time Warner als Kipppunkt an. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass es die Verbreitung frei verfügbarer Browser war, die AOL für Otto und Lise Normalanwender:in immer unattraktiver machte. Die Idee, die um 1998 herum für Furore sorgte, war den damaligen Bedingungen mehr als angemessen: Den Menschen da draußen, die ins Internet rein wollten, aber Nerd-Software wie Netscape oder auch dem Microsoft Explorer nicht trauten oder mit ihnen nicht klarkamen, einen bequemen und sicheren Weg in den wunderbare WWW-Kosmos zu bieten.

AOL - so sah es 1999 aus, wenn man drin war (Screenshot)
AOL – so sah es 1999 aus, wenn man drin war (Screenshot)

Selbst Boris Becker, der sich in der legendären Werbekampagne von 1999 als dummes Bobbele selbst auf die Schippe nahm, war ja mit AOL drin. So einfach war das. Und weil die CD mit der Zugangssoftware allein in Deutschland millionenfach über alle möglichen Wege gestreut wurde, nahmen viele, die sich nicht so auskannten an, AOL selbst sei quasi das Internet. Die Sache hatte einen Haken, denn die kostenlose Nutzung war nur von kurzer Dauer, und wer länger drinblieb, musste für WWW-Zugang und den Mail-Service ordentlich latzen.

So sah AOL im Jahr 2000 aus (Screenshot: Wayback Machine)
So sah AOL im Jahr 2000 aus (Screenshot: Wayback Machine)

Gerade in den USA scheffelte AOL so schon in den ersten beiden Jahren mit diesem Geschäftsmodell Millionen. Wären sie dabeigeblieben, hätten sie die Goldgrube vielleicht noch ein bisschen länger ausbeuten können. Der Vorstoß, aus AOL eine journalistische Rundumplattform zu machen, kam von Time Warner, dem Konzern, der zuvor schon das klassische Zeitungs- und Zeitschriftengeschäft mit dem profitträchtigen Kino-Business und der Popmusikindustrie vermählt hatte und auch auf den Markt der Computerspiele schielte. Man wollte – so würde man es heute ausdrücken – dem Volk Content jeder Art verkaufen und in diesem Sinne die Kontrolle über die Ausspielkanäle haben.

Da waren die Yahoo-Gründer schon einen Schritt weiter. Sie wollten den User:innen, die per Browser durchs Web surften, Orientierungshilfen bieten, und dachten an eine Art Adressbuch des Internets. Ein bisschen anders näherten sich die Jungs von AltaVista dem Problem, sie „erfanden“ die Suchmaschine. Diese beiden Unternehmen, ab etwa 1998 ergänzt durch Google, hatten von vornherein das altehrwürdige, aus dem 19. Jahrhundert stammende Geschäftsmodell der Adressbücher im Sinn: Firmen, die im Verzeichnis bzw. bei der Suche gefunden werden wollten, sollten dafür zahlen – die Leute, die sich der Dienste bedienten, dagegen nicht.

So standen sich zwischen 1998 und 2002 zwei Geschäftsmodelle gegenüber, deren Gegeneinander bis heute die Medienszene kennzeichnet: beitragsfinanziert vs. werbefinanziert. Wie’s ausgegangen ist, lässt sich – siehe oben – an den Schicksalen von AOL und Yahoo ablesen. Wobei beide noch einige weitere Jahre ganz gut mit ihrem jeweiligen E-Mail-Service verdienten. Denn das war ein weiteres Geschäftsmodell. Leider eines, das sich leicht kopieren ließ und indem es schnell zu Preiskriegen kam. In Deutschland versuchten sich Web.de und Hotmail daran, später auch T-Online und weitere Anbieter, die für kleinstes Geld Mailadressen und Postfächer anboten. Manche rüsteten nach dem Einstieg von Google mit Gmail in diesen Markt auf kostenlose Dienste um und wollten dann Geld über die Reklame auf ihren Portalen machen.

Eine der berüchtigten AOL-CD-ROMs (via Wikimedia)
Eine der berüchtigten AOL-CD-ROMs (via Wikimedia)

Die ursprünglichen AOL-Macher waren durchaus hellsichtig, denn außer ihnen interessierte sich niemand für das Thema Online-Chat. Sie aber kauften schon 1997 dem israelischen Softwarehaus Mirabilis für kleines Geld ICQ ab und entließen es in die Freiheit. Damit hatten sie die alten Online-Nerds am Haken, die genau auf so etwas gewartet hatten: einen IP-basierten Dienst zum Echtzeit-Chatten. ICQ wurde in kürzester Zeit De-facto-Standard und blieb es bis weit in die Nullerjahre.

AOL aber war noch bis ca. 2009 mit 30 Millionen Kunden weltweit der größte Internet-Anbieter. Witzigerweise hatte America OnLine unterwegs in den Jahren 1997 und 1998 die noch als Konkurrenten gesehenen Firmen CompuServe und Netscape gekauft. Vom ehemals führenden Mailanbieter CompuServe blieb nichts übriger, die Browser-Technologie von Netscape wurde in die AOL-Maschine integriert. Das fanden die Google-Gründer, die inzwischen mit ihrem simplen Ding ordentlich Kohle gemacht hatten, so spannend, dass sie Ende 2005 mit 1 Milliarde US-Dollar einstiegen – der bis dahin größte Deal in der Geschichte der Internet-Unternehmen. Der Plan dahinter war, das zeigt die Berichterstattung dieser Zeit, aus Google eine Kombination aus Suchmaschine und Content-Portal zu machen. Das kam nie zustande, und Mitte 2009 kaufte AOL Time Warner Google die Anteile wieder ab.

Sehr kurzlebig: Oath, die Fusion von AOL und Yahoo (Screenshot)
Sehr kurzlebig: Oath, die Fusion von AOL und Yahoo (Screenshot)

Und zwar mit dem klaren Ziel, den Konzern an die Börse zu bringen – so kurz nach der Finanzkrise von 2008 ein durchaus gewagtes Unterfangen. Zumal man nun neben den angestammten Diensten auch noch im eigenen Unternehmen erzeugten Content – inklusive News – anbieten wollte, um noch mehr Fläche für Werbung verkaufen zu können. Ein gewisser Tim Armstrong, damals Chef des Ladens, ein Mann, der viel von Merger & Akquisition und IPOs verstand, aber wenig vom Internet, wollte den Konzern schlank machen, also Kosten einsparen und entließ mal eben 2.500 Mitarbeiter, gut ein Drittel der Belegschaft. Außerdem wurden ausländische Niederlassungen reihenweise geschlossen, auch die in Deutschland.

Die Aktion endete im Desaster. Weder mögliche Investoren noch die Kunden fanden das alles prickelnd, und um den eigenen Hintern zu retten, trennte sich Time Warner Ende 2009 von AOL – das aber gegen jede Wahrscheinlichkeit doch noch an die Börse ging. Kenner sagten schon damals, institutionelle Anleger, die damals AOL-Aktien zeichneten, spekulierten auf eine Zerschlagung und den gewinnträchtigen Verkauf der einzelnen Bestandteile. Weil die Geschäfte schlecht liefen und der Börsenkurs sich nicht wirklich zufriedenstellend entwickelte, verkaufte man zunächst ICQ für schlappe 190 Millionen US-Dollar an ein russisches Unternehmen.

AOL-Gründer wurde Milliardär und macht heute in Risikokapital (Screenshot)
AOL-Gründer wurde Milliardär und macht heute in Risikokapital (Screenshot)

Aus heutiger Sicht kann man sagen: AOL eierte ab 2009 ganz schön rum. Immer neue Ideen, eine immer wieder revidierte Ausrichtung und mehr oder weniger öffentlich durchgeführte Experimente unter wechselndem Management schwächten das Unternehmen immer mehr. Dann wollte man sich endgültig als DER Content-Lieferant im Internet profilieren und kaufte 2011 die Huffington Post. Was als eine Art professionelles Journalisten-Blog mit liberaler Ausrichtung als Gegenpol zu den stramm konservativen Nachrichtenportalen jener Zeit begann, war innerhalb kürzester Zeit zu DEM Online-Magazin in den USA geworden. Dutzende namhafter Journalist:innen arbeiteten fest oder frei für die HuffPost, und im Jahr 2010 wurde dieses Medium häufiger zitiert als die altehrwürdige New York Times. Ja, eine Zeitlang sah es so aus, als würden die HuffPost und andere erfolgreiche Online-Zeitungen und -Zeitschriften den klassischen Printmedien die Lebenslichter ausblasen.

Traurig, aber wahr: So sieht AOL heute aus (Screenshot)
Traurig, aber wahr: So sieht AOL heute aus (Screenshot)

Wir wissen, dass es so nicht gekommen ist. Wir wissen auch, dass der Telekommunikationskonzern Verizon 2015 den größten Teil von AOL für rund 4,4 Milliarden US-Dollar gekauft hat und zwei Jahre später auch noch Yahoo, um die beiden Oldies miteinander zu verschmelzen. Dann hat die Mutter beiden Teilen einen Schrumpfkurs verordnet, was aber der Bedeutung von Oath, so nannten sie die Kombi, nicht gutgetan hat. Also verkaufte Verizon den ganzen Summs 2021 wieder für 5 Milliarden US-Dollar – ein ziemliches Verlustgeschäft.

Der Private-Equity-Laden Apollo Global Management als Käufer wusste und weiß bis heute nicht so recht, was er mit AOL und Yahoo, die wieder getrennt wurden, anfangen soll. Beide fristen nun ziemlich karge Leben als zwei unter Dutzenden Portalen mit ziemlich ödem Content, vor allem Klatsch und Tratsch. Es ist traurig…

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