The Billion Dollar Code: Die Mannschaft hinter Terra Vision (Foto: netflix)

Netflix-Serie: The Billion Dollar Code – Ist Google Earth in Wahrheit Terravision?

Diese vierteilige Netflix-Miniserie aus deutscher Produktion ist eine Sensation. Sie zeigt uns einen Kampf David gegen Goliath, ART+COM gegen Google. Und nach allem, was ich als Aktiver der IT- und Internet-Branche ab 1994 persönlich mitbekommen habe, schildern Drehbuchautor Oliver Ziegenbalg und Regisseur Robert Thalheim die Sache sehr, sehr realistisch. Kein Wunder: Ziegenbalg und sein Team haben über Jahre intensiv recherchiert, mit Dutzenden Beteiligter gesprochen (was man übrigens in einem grandiosen Making-of nachvollziehen kann) und massenhaft Dokumente und Quellen ausgewertet. Und obwohl die Namen der Protagonisten geändert wurden und eine tragende Figur hinzuerfunden wurde, fällt The Billion Dollar Code eigentlich ins Fach „fact fiction“.

So präsentiert ART+COM Terravision bis heute auf ihrer Website (Foto: ART+COM Studios)
So präsentiert ART+COM Terravision bis heute auf ihrer Website (Foto: ART+COM Studios)

Dabei geht es übrigens nicht nur darum, wie Google die Erfinder von Terra Vision übers Ohr gehauen haben, sondern auch um das bis heute andauernde Verpennen der Digitalisierung in Deutschland. Eine Mitarbeiterin der Telekom, die den jungen Berliner Entwicklern das Projekt finanzieren soll, sagt so um 1998 herum: „Ach, das Internet… Das wird sich nicht durchsetzen, höchstens im Bereich der Universitäten.“ Und da war Boris Becker per AOL schon fast drin. Um die Haltung deutscher Entscheider zum weltweiten Web zu illustrieren, zitiert Thalheim übrigens eine Folge der 3sat-Sendung NEUES. Ja, genau die, in der mein Freund mit Mit-Digisaurier in Begleitung vom lieben Kollegen Hannes Rügheimer den Menschen an den Fernsehempfängern das Internet erklärt.

Die Story: Der Künstler Joachim Sauter (in der Serie heißt er Carsten Schlüter) spielt um 1993 herum mit Computeranimationen, sehr zum Unwillen seines Professors an der Hochschule der Künste Berlin. Also bastelt er eine Installation mit mehreren Bildschirmen für einen Techno-Club. Dort trifft er (die fiktive Figur) Juri Müller, einen waschechten Nerd, dem gefällt, was Carsten macht, aber sich über die amateurhafte Umsetzung lustig macht. Juri hängt ansonsten im Chaos Computer Club herum und kriegt die bösen Hacks des CCC (Post, Pentagon etc.) mit ohne aktiv beteiligt zu sein. Einen Juri Müller gab es in der zugrundeliegenden Geschichte nicht, er wurde aus dramaturgischen Gründen aus mehreren Personen zusammengesetzt, die gemeinsam mit Sauter aka Schlüter Terra Vision entwickelt haben.

Carsten und Juri zur Zeit des Prozesses gegen Google (Foto: Netflix)
Carsten und Juri zur Zeit des Prozesses gegen Google (Foto: Netflix)

Dieser Juri ist Ungarndeutscher, hatte einen fordernden Vater, war ein Einzelgänger und träumte vom Fliegen; also nicht mit dem Flugzeug, sondern so wie Superman. So wollte er den Erdball umrunden und sich von oben anschauen, was ihn interessierte. Wir spüren, worauf es hinausläuft – genau: Google Earth. Die wahre Story rundum Terravision ist um einige komplexer und hat keinen derart küchenpsychologischen Ursprung. Aber: Die Geschichte der Freundschaft und der Konflikte zwischen Carsten Schlüter und Juri Müller trägt die ganze Serie, sie hält das, was über einen Zeitraum von 25 Jahren geschehen ist, wunderbar zusammen – Kompliment dafür an Drehbuchautor und Regisseur!

Die Idee von Terravision war es, die ganze Erde in Form von Satellitenbildern, Landkarten, Luftaufnahmen und Geodaten in einer Anwendung darzustellen und mit einem User Interface zu versehen, mit dem die Menschen wie Superman über die Kugel fliegen, um dann einen gewünschten Ort anzusteuern. Das war 1993 technisch so gut wie unmöglich. In der Serie verschaffen sich Carsten und Juri Zugang zu einem Supergrafikcomputer, einer Onyx 10000 von Silicon Graphics (SGI). So kann Juri seinem Kumpel zeigen, wie das Ganze aussehen und funktionieren könnte. Solch eine Maschine, die 1993/94 um eine Million D-Mark kostete, würden sie brauchen, um ihre Idee Wirklichkeit werden zu lassen.

So spektakulär sieht Google Earth heute aus (Screenshot: google.com)
So spektakulär sieht Google Earth heute aus (Screenshot: google.com)

Durch die Privatisierung der Deutschen Bundespost war Anfang 1995 die Telekom entstanden, deren Hightech-Abteilung namens BERKOM in Berlin saß. Noch immer wurden massenhaft Subventionen in die neue alte Bundeshauptstadt gepumpt, und die Telekom-Leute suchten verzweifelt nach Projekten, in die sie investieren konnten. Da kam ihnen Terravision gerade recht, und sie gaben Geld. Davon kauften die Jungs erstmal eine Onyx und gründeten die Firma ART+COM, um Terravision innerhalb eines Jahres zu entwickeln. Denn die Telekom wollte mit dem Projekt auf der ITU in Kyoto 1994 als Hightech-Konzern glänzen. In der Realität wurde die Firma 1988 von Künstlern, Gestaltern, Wissenschaftlern und IT-Spezialisten aus dem Umfeld der Universität der Künste Berlin und der Berliner Sektion des Chaos Computer Clubs als Verein zur Erforschung des Computers als Medium zur Kommunikation gegründet und erst 1995 in ein Unternehmen umgewandelt.

Lesetipp: Eine entscheidende Inspiration für das Projekt Terravision findet sich im Roman „Snow Crash“ des wegweisenden Sciens-Fiction-Autors Neal Stephenson. In einer Szene der Serie sieht man Juri Müller, der in einer Taschenbuchausgabe des Romans (ISBN-10: 3596705592) liest.

Der Bösewicht in der Serie heißt Brian Anderson, soll gebürtiger Schwede und im Herzen ein Hippie sein. Das reale Vorbild ist aber Brian McClendon, der in den Neunzigerjahren auf Computergrafik spezialisierter Softwareentwickler bei Silicon Graphics war. Mit dieser Figur verlässt die Serie den Boden der Realität in vielfacher Weise. Denn der fiktive Anderson wird zum Nerd-Superstar geformt, von dem die Hacker von ART+COM Autogramme erbitten. Juri sieht sich nach einem Besuch im Silicon Valley als Bruder im Geiste und denkt, Anderson wäre sein Freund. Also erzählt er ihm alles über Terravision, ja, stellt ihm Konzepte und sogar Code zur Verfügung. Immerhin ist Terravision inzwischen durch ein US-Patent gegen Nachahmer geschützt. Aber der böse Brian, der geht zu Google und wird Chefentwickler von Google Earth – hat er den Code von Juri geklaut?

1993: Die Maschine der Träume - eine Onyx RealityEngine (Foto: SGI)
1993: Die Maschine der Träume – eine Onyx RealityEngine (Foto: SGI)

An dieser Stelle soll die Inhaltsangabe der vier Folgen mit einer Gesamtdauer von gut dreieinhalb Stunden erst einmal enden – wir wollen ja nicht spoilern. Die Rahmenhandlung, die in der Jetztzeit spielt, zeigt die Vorbereitung eines Prozesses von ART-COM gegen Google sowie den Prozess selbst. Hier überzeugten vor allem Marc Waschke als Carsten Schlüter und vor allem Mišel Matičević (den man ja aus Babylon Berlin kennt…) durch ihre schauspielerische Leistung. Das trifft auf die jungen Leute in der Phase zwischen 1993 und 2001 nicht immer zu; hier operieren Ziegenbalg und Thalheim doch mit haufenweise Klischees über Hacker, über Techno-Musik und über Berlin in den Neunzigern.

Neben dem deutschen Digitalisierungsdilemma kommt natürlich harte Kritik an Google zum Einsatz. Während des Prozesses beschreibt eine Anwältin wie Google über die Jahre an jede Menge fremde Ideen, Produkte und Patente gekommen ist. Hat man ein kleines Unternehmen ausgemacht, für dessen Sachen man sich interessiert, bittet man die Inhaber darum, ein Kaufangebot zu unterbreiten. Dutzendweise sind Start-ups begeistert, dass sich das gigantische Google für sie interessiert und sind mit Beträgen zwischen einer und fünf Millionen (so im Fall von ART+COM) zufrieden. Die böse Idee hinter dieser Methode: Eine Patentklage in den USA wird von den spezialisierten Anwaltskanzleien überhaupt nur übernommen, wenn es um zehn Millionen US-Dolar und mehr geht, sonst lohnt es sich nicht. Das heißt, das eine Firma, die fünf Mio verlangt hat, keine Chance hat, Google wegen einer Patentverletzung zu verklagen. Von wegen „Don’t be evil“…

Wir legen allen Digisauriern diese Netflix-Serie sehr ans Herz. Aber auch Menschen, die spannende Geschichten mit wahrem Hintergrund mögen. Tatsächlich mochten auch Mitseher The Billion Dollar Code, für die das Internet auch heute noch Neuland ist.

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