Wir alle kennen das ja, dass seinerzeit Steve Jobs und heutzutage Tim Cook die Keynote zur Apple-Entwicklerkonferenz WWDC mit einem „One more thing…“ beenden und dann etwas mehr und meistens weniger Revolutionäres vorstellen. Was der aktuelle Vorturner aber vergangene Woche so einläutete, ist definitiv mehr als just one more thing. Zwar hatten die Glaskugelputzer schon länger gemutmaßt, dass im Apfelwald etwas sehr, sehr, sehr Aufregendes im Busch sei, aber mit der Multi-Reality-Brille hatte kaum jemand gerechnet.
Spießiger Name, komisches Aussehen
Zwei Eigenschaften des Wunderdings sind, ähem, gewöhnungsbedürftig. Es heißt Vision Pro, und einen weniger inspirierten Namen hätten sich die Kreativen in Cupertino kaum ausdenken können. Zweitens sieht das Gerät am Kopf eines Opfers ziemlich bescheuert aus. Die gängige Assoziation ist die einer Taucherbrille, und die Vorstellung, mit einem Unterwassersichtapparat auf der Couch zu sitzen, fröhlich bis debil zu grinsen und mit zwei Fingern komische Bewegungen zu machen, kann einen schon zum Lachen bringen.
Vision Pro – nicht für Normalos, sondern für Entwickler
Und dann der Preis! Wer sich aber über die 3.500 US-Dollar (in Europa werden es wohl mehr als 4.000 Euro werden.) erregt, hat den Knall nicht gehört. Denn schon die Typenbezeichnung weist daraufhin, dass sich die Vision Pro nicht an Otto und Lise Normaluser:in wendet, sondern an Profis – in diesem Fall an die Entwickler von Apps für die Multi-Reality-Brille. Denn ohne jede Menge Apps, mindestens eine Killer-App inklusive, werden sich Apple-Devices wie dieses am Markt nicht durchsetzen können.
Mehr als ein Hauch von Science Fiction
Die in popkulturellen Dingen geschulten Apple-Experten saßen sofort auf dem Black-Mirror-Zug. Tatsächlich hat gerade das Video namens „Introducing Apple Vision Pro“ alle Merkmale eines Sci-Fi-Trailers; manche sahen es als Dystopie, manche als Verwirklichung von Träumen. So naheliegend die Assoziationen, so sehr malen sie das Bild einer völlig neuartigen Art, mit digitalen Devices zu… nein, nicht arbeiten, sondern zu leben. Einer dieser alten Träume beinhaltet ja die Sehnsucht nach der Befreiung von jeglicher Art Hardware – oder zumindest deren Reduktion auf ein Maximum.
Tatsächlich stellt die Vision Pro in dieser Hinsicht den kompletten Verzicht auf Gehäuse, Bildschirm und Tastatur dar. Alles, was es braucht, um Informationen zu holen, sich virtuelle Dinge anzusehen und diese oder jenen Job zu erledigen, steckt in der Taucherbrille. Die übrigens vom Allerfeinsten designt und mit ausgewählten Materialien ausgestattet ist. Den hohen Preis von Apples erster Brille sieht man ihr wahrlich an.
Bausteine vom Allerfeinsten
Atemberaubend, was die Ingenieure in das Ding gepackt haben! Die eigentliche Rechenarbeit übernimmt eine M2-CPU, also der Motor, der auch die Leistungsdaten der meisten aktuellen MacBooks und iPads in schwindelnde Höhen treibt. Daneben haben sie einen R1-Chip gesetzt, ebenfalls eine CPU, die aber voll und ganz auf Virtual-Reality-Anwendungen optimiert ist – etwa so wie Google Tensor-Chips auf KI-Anwendungen.
Sage und schreibe 12 Kameras und fünf Sensoren sind verbaut, und das Display, das der:die Nutzer:in sieht, muss wohl mit das – mit Verlaub! – Geilste sein, was man vor die Augen kriegen kann. Wer die Vision Pro testen konnte, bescheinigten die aktuellen VR-Brillen aller anderen Anbieter eine Position unter ferner liefen.
Gucken und Knipsen
Wie funktioniert das alles? Mit der Brille auf der Birne öffnet sich vor dem:der Anwender:in ein virtueller Bildschirm, der mitten im Raum zu schweben scheint. Nach dem Start lächeln einen eine Auswahl an App-Icons an; das gewünschte visiert man mit den Augen an und klickt dann, indem man Daumen und Zeigefinger der Hand aufeinander knipst. Ebenfalls mit den Fingern lässt sich der virtuelle Bildschirm vergrößern und verkleinern, verschieben, drehen und so auseinanderziehen, dass das Bild quasi um einen herum dargestellt wird. Alles ist mit steuerbaren 3D-Effekten ausgestattet.
Klar: Das alles zielt zunächst vor allem aufs Betrachten von Fotos und Bildern sowie auf den Konsum von Filmen. Verrückt wird das alles aber, weil es sich um eine See-through-Brille handelt, dass also die reale Umgebung jederzeit durch, neben und/oder hinter dem Bild sichtbar bleibt; jedenfalls in dem Maße, in dem der:die Gucker:in das möchte.
Alberne Gimmicks
Bevor wir auf die philosophische Ebene geraten: Natürlich haben sich die Ingenieure Gedanken darüber gemacht, wie die totale Isolation hinter der Taucherbrille verhindert werden kann. Und jetzt wird’s ein bisschen albern, denn wenn eine andere Person den Raum betritt, wird auf der Vorderseite der Brille der Teil des User-Gesichts eingeblendet. Alle, die’s probiert haben, sagen, dass es komisch aussah.
Nicht weniger bekloppt ist die Funktion, mit der die Vision Pro einen Avatar aus den Daten erzeugt, die sie selbst gescannt hat. Der kann dann im virtuellen Raum bewegt werden und so reden und gestikulieren, dass es halbwegs echt aussieht. Vermutlich zielt diese Sache auf den armen Mark Zuckerberg, dessen unbeholfenes Metaverse dagegen ziemlich alt aussieht.
Arbeiten? Na ja…
Das haben Cook & Co. schon ganz richtig verstanden, dass das, was man so Arbeiten am Computer nennt, immer unwichtiger wird bzw. auf einer anderen Ebene passiert. Natürlich versteht die Vision Pro auch die menschliche Sprache, wobei sich die Applianer um Aussagen darüber, wie viel KI in dem Ding steckt, schön herumgedrückt haben. So wird über die Eingabe von Text schamhaft hinweggehuscht mit dem Hinweis, man könne der Brille was diktieren. Ob irgendwelche Arten von Bild- und Bewegtbildverarbeitung möglich sein werden, diese Frage müssen Entwickler von Apps beantworten.
Darum geht es aber anscheinend nicht. Im Zentrum steht das Entertainment in jeglicher Form, Infotainment und Edutainment inklusive. Und auf diesem Gebiet könnte die Vision Pro tatsächlich der erste Meilenstein einer Revolution sein. Sicher nicht in der jetzigen Form, sondern als irgendwie massentaugliches Device. Das könnte den klassischen Flachbildfernseher einfach so wegfegen und auch dem Tablet den Garaus machen.
Skepsis und Zukunftsangst
Wobei die Vorstellung, dass ein Pärchen des Abends nebeneinander auf dem Sofa hockt, beide eine Apple-Mixed-Reality-Brille tragend, die sich beide denselben 3D-Film reinziehen, schon etwas Bedrückendes hat. Denn die (siehe oben) philosophisch interessanteste Frage lautet: Werden die Menschen noch weiter voneinander isoliert? Werden aus sozialen Wesen egozentrische Monaden, die – wenn überhaupt – nur noch virtuell miteinander kommunizieren? Time will tell.
Alle Abbildungen sind Screenshots aus dem offiziellen Apple-Video zur Vision Pro: