So stellt sich Stable Diffusion einen digitalen Saurier vor (Screenshot)

2023: Das Jahr, in dem die KI die Macht übernahm (?)

Wenn schon Nachrichtenmagazine und überregionale Tageszeitungen (Spiegel, Focus, Süddeutsche, FAZ etc.) in Länge und Breite über einen Digitaltrend berichten, kann man sicher sein, dass die Sache mehr ist als ein Hype. Die genannten Medien haben sich im letzten Quartal des Jahres 2022 besonders auf die KI-nutzenden Plattformen wie Stable Diffusion und ChatGPT gestürzt – meistens in Texten voller Ängste und Bedenken. Natürlich trifft der Chatbot mit der GPT-Engine jede:n Journalist:in an einem wunden Punkt. Und so ging es oft um die Frage, ob die KI nun auch das schreibende Volk arbeitslos macht.

Nun haben wir Digisaurier in den vergangenen 40 Jahren so manchen Hype kommen und gehen sehen. Und gerade rund um die sogenannte „künstliche Intelligenz“ (kurz KI oder auch AI) kann uns nichts mehr erschüttern, denn über neuronale Netze, machine learning, natürlich Sprache etc. wird in IT-Kreisen schon seit mindestens 35 Jahren nicht nur diskutiert, sondern geforscht und entwickelt. Dass es ausgerechnet im Jahr 2022 zu mehreren Durchbrüchen kam, hat eine Menge Gründe.

Die wenigsten davon sind technischer Natur. Es geht um die Deutungshoheit im gesamten digitalen Kosmos. Nehmen wir die für jede:n frei zugängliche Plattform ChatGPT. Dabei handelt es sich um die Umsetzung des KI-Algorithmus‘ GPT 3.5, eines sogenannten „Generative Pre-trained Transformers“, dessen Entwicklung von der US-Firma OpenAI vorangetrieben wird. Und die arbeitet vor allem mit Geld von Microsoft. Die aktuelle Version des so entstandenen Chatbots beantwortet in natürlicher Sprache gestellte Fragen. Dafür wurde er mit den Methoden des sogenannten „bestärkenden Lernens“ trainiert. Das heißt: Lebende Menschen haben die Maschine über Jahre mit Fakten und Zusammenhängen gefüttert. Und immer wenn der Bot auf Fragen gute Antworten gab, bekam er ein Leckerchen.

Der Chatbot erklärt RLHF (Screenshot)
Der Chatbot erklärt RLHF (Screenshot)

Tatsächlich: Bestärkendes Lernen eines Algorithmus ähnelt stark der Art und Weise, wie ein Hund lernt, die Befehle seines Herrchens oder Frauchens zu befolgen. Da ist also nicht irgendein unfassbares Wesen unterwegs und sammelt das Wissen der Menschheit ein. Nein, das Ding ist auf den Input und das Feedback von Menschen angewiesen. Gegenüber der reinen Fütterung von Datenbanken unterscheidet sich der Bot der ChatGPT nur dadurch, dass er eigenständig Verbindungen knüpfen und Zusammenhänge generieren kann. Das aber ist beim maschinellen Lernen schon beinahe ein alter Hut: AlphaGo, die Googles KI-Maschine für das hochkomplexe japanische Brettspiel Go, hat sich Regeln und Strategie auch schon selbst beigebracht.

Auch damals wurden „richtige“ Züge von Menschen belohnt und „schlechte“ Züge bestraft. Schlicht und einfach dadurch, dass korrekte Aktionen zum Sieg führten und das Spiel zu gewinnen dem System als oberstes Ziel einprogrammiert war. Man nennt die Methode „Reinforcement Learning from Human Feedback“ (kurz: RLHF). Das für viele Beunruhigende an ChatGPT hat damit wenig zu tun. Dass der Bot in natürlicher Sprache gestellte Fragen in natürlicher Sprache beantwortet, ist ja sooo neu auch nicht. Wer eine Alexa daheim hat oder gern mal mit dem Google-Assistant oder Siri plaudert, kennt das seit Jahren. Was diese virtuellen Damen können, kann ChatGPT übrigens auch – zum Beispiel einen (meistens schlechten) Witz erzählen.

Das Prinzip des RLHF (Quelle: Sandip Patel)

Womit der schlaue Bot aber überzeugen kann, ist mit seinen Formulierungskünsten. Ja, man kann sich mit ChatGPT druckreife Artikel zu verschiedenen Fakten schreiben lassen. Ein Beispiel: Auf die Frage „Wie hat sich der Goldpreis über die vergangenen 20 Jahre entwickelt und was hat ihn beeinflusst?“ wirft der Bot folgende Antwort aus:

„Der Goldpreis hat sich in den vergangenen 20 Jahren stark verändert und wurde von verschiedenen Faktoren beeinflusst. In den frühen 2000er Jahren lag der Goldpreis bei etwa 300 US-Dollar pro Unze, stieg dann aber im Laufe des Jahrzehnts auf fast 1.900 US-Dollar pro Unze. Seitdem hat sich der Goldpreis wieder abgeschwächt und lag im Jahr 2021 bei etwa 1.700 US-Dollar pro Unze.

Ein wichtiger Faktor, der den Goldpreis beeinflusst, ist die Inflation. Wenn die Inflation steigt, wird der Wert von Papiergeld abgewertet, wodurch Gold als sicherer Hafen für Investitionen attraktiver wird und somit auch sein Preis steigt. Auch die geopolitische Unsicherheit, der Wechselkurs des US-Dollars und die allgemeine Konjunktur spielen eine Rolle bei der Bestimmung des Goldpreises.“

Klasse, oder? In Wirklichkeit lässt sich leicht feststellen, wie der Chatbot mit dem Input umgeht: Er zitiert die Frage und kleidet die nackten Fakten in schöne Sätze. Aber, mal ehrlich, machen Journalist:innen das nicht auch oft so? Bei Licht betrachtet werden GPT-Chatbots in Zukunft keine redaktionellen Arbeitsplätze vernichten, sondern Schreibenden bei der Recherche helfen. Denn man kann – sofern man keine Fakten nach 2021 benötigt – jetzt schon als prima Recherchetool verwenden; quasi als Mischung aus Google und Wikipedia. Ein uns bekannter Texter hat sich auf diese Weise über ein Thema schlau gemacht, mit dem er bisher kaum je zu tun hatte: Smart Contracts. Sieben Fragen an ChatGPT brachten ihn auf den Stand der Dinge; die gebotenen Formulierungen übernahm er nicht, weil sie nicht seinem persönlichen Schreibstil entsprachen.

So stellt sich Dall-e James Bond als Engel vor… (Screenshot)

Dass hinter ChatGPT Microsoft steht, beunruhigt vor allem Google. Was Wolfram Alpha nie geschafft hat, nämlich als universelle, natürliche Sprache verstehende Suchmaschine den Markt zu erobern, könnte Microsoft mit diesem Ansatz gelingen. Und das träfe Google mitten ins Herz. Denn schon lange geht es bei deren Suche nicht mehr darum, den Fragenden möglichst viele gute Antworten zu geben, sondern möglichst viel Werbung zwischen den Antworten zu servieren – das ist ihre Gelddruckmaschine. Alle Fragen an Google, bei denen es um schiere Fakten geht, kann ChatGPT – und das ist immer noch ein Prototyp – besser beantworten.

Die gute Nachricht: Nein, „die KI“ wird auch 2023 nicht die Macht übernehmen und/oder Menschen arbeitslos machen. Mit dem enorm gehypten ChatGPT steht allerdings ein feines Werkzeug der Wissenbeschaffung zur Verfügung, das immer besser werden wird, weil es immer mehr lernt – durch Menschen.

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