Tim Berners-Lee 2009 auf einem Kongress (Foto: Wikimedia)

Bringt uns Tim Berners-Lee ein brandneues Web?

Wir wissen, dass sich WWW-Erfinder Tim Berners-Lee beileibe nicht auf seinen Lorbeeren ausgeruht hat. Als Vorsitzender des Standards definierenden Konsortiums W3C kümmert sich seit Jahren darum, dass alle Bestandteile, die für ein störungsfreies Betreiben und Nutzen des Webs nötig sind, nicht nur standardisiert, sondern auch fortentwickelt werden. Aber schon seit Langem kann man den Frust aus seinen öffentlichen Äußerungen ablesen, dass er eine zunehmende Einschränkung der Freiheit im Internet durch die Macht der Konzerne und die Datenüberwachung staatlicher Institutionen feststellt und beklagt.

Machtmonopole im WWW

Machtmonopole im Web
Machtmonopole im Web
Dadurch, dass die im Web flotierenden Daten auf den Servern nur weniger großer Anbieter gespeichert und von dort aus verteilt werden, gibt diesen Unternehmen eine Art Machtmonopol über den weltweiten Datenverkehr. Das widerspricht den Prinzipien, die nach Berners-Lees Vorstellungen dem freien Web zugrunde liegen, zutiefst. Nun ist der gute Tim keiner, der lange jammert, sondern jemand der – wie damals am CERN – anpackt und nach Lösungen sucht. So hat er bereits für gut zehn Jahren das Prinzip „Linked Data“ formuliert, das ein neue, freies Netz ermöglichen würde.

Die Idee ist, nicht mehr Dokumente, die fest auf einem oder mehreren Servern gespeichert sind, zu verlinken, sondern Daten jeder Art dezentral zu speichern, ihnen eine feste Adresse zuzuteilen und dem Besitzer dieser Daten die volle Kontrolle zu übergeben. Jedes Foto, jeder Text und jede andere Datei gehören demjenigen, der sie im Web speichert, und diese Person kann entscheiden, wo die Daten gespeichert werden und wer sie sehen, liken, teilen, kommentieren oder sogar verändern darf. Die so erteilten Berechtigungen kann der Besitzer natürlich jederzeit ändern.

Cloud-Nutzung weitergedacht

So ganz neu ist das Prinzip nicht, denn schon heute können User ja eigene Clouds einrichten, ihre Daten dort speichern und ausgewählten anderen Anwendern die beschriebenen Rechte zu erteilen. Kurz gesagt: Jede von einem Individuum betriebene Cloud kann – ganz unabhängig davon, wo die Daten physisch gespeichert sind – zum sozialen Medium werden. Natürlich können sich Betreiber dafür entscheiden, ihre Clouds mit anderen Cloud-Betreibern gemeinsam zu verwalten – in einem solchen dezentralen Web könnten neue Formen bekannter Plattformen wie Facebook, Youtube und Instagram entstehen, die von keinem Konzern mehr kontrolliert werden.

Tim Berners-Lees berühmter offener Brief aus dem September 2018
Tim Berners-Lees berühmter offener Brief aus dem September 2018
Einen Namen hat das brandneue Web auch schon, denn es ist längst dem Ideenstadium entwachsen. Solid steht für „SOcial LInked Data“ und ist ein umfassendstes System zum Betreiben von Solid-Servern und Entwickeln von Applikation – z.B. einen Solid-Browser. Das Datenmodell klingt spannend. Datenschnipsel stecken in sogenannten „Pods“, die der jeweilige Besitzer an einem beliebigen Ort speichert: der eigenen lokalen Festplatte, der eigenen Cloud, aber natürlich auch auf einem Firmenserver oder dem Server eines Dienstleisters. In einem Pod können einzelne Daten (Kontakte, Fotos, Texte, Zugangsdaten), aber auch ganze Listen und Dokumente untergebracht werden.

Das Solid-Speichermodell
Das Solid-Speichermodell
Der Besitzer entscheidet, wer Zugriff auf diese Daten hat, kann aber jedem Berechtigten jederzeit jedes Recht wieder entziehen. Hat jemand beispielsweise einen Lebenslauf mit allen Daten zusammengestellt und in einem Pod in der persönlichen Cloud abgelegt, kann er ihn allen Firmen zugänglich machen, bei denen er sich bewirbt. Nach einer Absage oder am Ende einer erfolgreichen Bewerbungsphase entzieht er den Unternehmen dieses Zugriffsrecht einfach wieder. Außerdem können Pods von einem zum anderen Speicherort transferiert werden und behalten dabei unterbrechungsfrei die zugeteilten Rechte. Um Inhalte aus einem fremden Pod lesen zu können, braucht man nur die feste Adresse des Pods und die vom Besitzer zugeteilten Rechte.

Bekannt und erprobt: das Peer-to-Peer-Prinzip
Bekannt und erprobt: das Peer-to-Peer-Prinzip
Neu ist das alles nicht, weil Tim Berners-Lee viele bereits bekannte und praxiserprobte Methoden miteinander kombiniert hat. Verteilte Netze nach dem Peer-to-Peer-Prinzip gibt es ja bereits seit den Tagen von Napster und anderen Filesharing-Plattformen. Die Verschlüsselung, die das Verteilen von Rechten sicher macht, ist ebenfalls bekannt und erprobt. Und jeden Pod mit einer eigenen Adresse auszustatten, ist einfach die logische Fortentwicklung des URL-Prinzips.

Solid in der Praxis

Ganz praktisch: Blog-Text in einem Solid-Pod
Ganz praktisch: Blog-Text in einem Solid-Pod
Theorie ist das alles nicht mehr, denn es gibt nicht nur eine hochaktive Solid-Entwickler-Gemeinde, sondern mit Inrupt und Solid Community auch erste, von den Gründern und Entwicklern betriebene Solid-Pod-Anbieter. Jeder Internet-User kann dort einen Pod pro Identität einrichten und nutzen. Wichtig: Es ist ausdrücklich NICHT ausgeschlossen, mehrere Identitäten zu kreieren, um mehrere Pods für unterschiedliche Zwecke mit unterschiedlichen Daten zu betreiben. Denn das ganze „Ökosystem“ ist durchgehend dezentral, man muss sich nirgendwo registrieren, und niemand überprüft eine benutzte Identität.

Die Community arbeitet an Solid-Apps
Die Community arbeitet an Solid-Apps
Das wiederum klingt ein bisschen nach „Dark Net“, und natürlich unterliegt Solid genau dieser Gefahr, dass die Dezentralität und Anonymität vor allem von kriminellen Strukturen missbraucht werden. Aber so optimistisch Tim Berners-Lee seinerzeit bei der Definition von HTML, HTTP und URL agiert hat, so hoffnungsfroh sollten interessierte User sich mit dem brandneuen Web befassen und zum Beispiel einen eigenen Pod bei Inrupt einrichten, um damit zu experimentieren.

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