Das Telefonjoker-Prinzip: Jemanden fragen, der es wissen könnte

Das Telefonjoker-Prinzip und die selbstverschuldete Unmündigkeit

[Kurzessay] Wenn ein Kandidat der Quizshow „Wer wird Millionär?“ (WWM) partout nicht weiterweiß, kann er den Telefonjoker ziehen und einen von drei Helfern anrufen, die es vielleicht besser wissen. Vermutlich ohne es zu wissen, haben die Macher der beliebten Sendung ein grundsätzliches Prinzip dessen implementiert, was man „Schwarmwissen“ nennt. Und gleichzeitig ein schlagendes Beispiel dafür gefunden, dass es wichtiger zu wissen, wer etwas weiß oder wo man eine Antwort findet. Dieses Prinzip ist so alt wie die Aufklärung an sich, dieser geisteswissenschaftlichen Revolution des 18. Jahrhunderts, die (so Immanuel Kant) den Menschen aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ führen sollte und in der Erkenntnis „Wissen ist Macht“ mündete.

Immanuel Kant, einer der wichtigsten Denker der Aufklärung
Immanuel Kant, einer der wichtigsten Denker der Aufklärung
Seit jener Zeit bemühen sich Abertausende Wissenschaftler darum, das Wissen der Welt allen Menschen zugänglich zu machen. Und hier liegt der Grund weshalb wir Digisaurier so euphorisch auf die Ankunft des Internets reagiert haben. Wir dachten: Wow, die totale Wissensmaschine! Alle Informationen, alle Erkenntnisse der Menschheitsgeschichte, würden schon bald jedermann zur Verfügung stehen. Stand heute kam es anders: Das Web wird beherrscht von Reklame, Entertainment und Fake-News. Gleichzeitig (oder deswegen) befindet sich die Bereitschaft der Leute, den Verstand einzuschalten und sich an der Quelle über Fakten zu informieren, im Sinkflug.

In unseren Science-Fiction-Träumen erschien uns das Internet mit seinen verschiedenen Kanälen und Zugangswegen als die ubiquitäre Datenbank für ALLES, die man jederzeit anzapfen könnte. Tatsächlich aber lebt das Wissen der Welt verteilt. Und zwar nicht nur in digitaler Form in den Rechenzentren, sondern immer auch noch in den Köpfen der Leute, die man einfach fragen kann. Wir Insassen der älteren Generationen sehen immer noch die Trennung in das Digitale (Computer) und das Analoge (Mensch), für die Digital Natives hat sich der Unterschied schon erledigt. Anekdote gefällig?

Google Home (rechts) schlägt Amazons Alexa (links)
Google Home (rechts) schlägt Amazons Alexa (links)
Die vierzehn-jährige Miriam (Name v.d. Redaktion geändert) kommt ins Homeoffice von Vater Erik (Name v.d. Redaktion geändert): „Papa, wann war denn dieser Krieg von dem Napoleon? Brauch das für mein Referat.“ Der Erziehungsberechtigte wendet sich der Tochter zu und brummt nur: „Wikipedia.“ – „Dauert mir zu lange. Ich ruf Lilly an, die weiß das bestimmt.“ Zwei Tage später eine ganz ähnliche Situation. Dieses Mal geht es um den Fußballweltmeister des Jahres 1950. Während der Vater schon auf der Tastatur herumhackt, ruft Miriam kurz: „Alexa, wer war Fußballweltmeister 1950?“ Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen, während Papa gerade mal Wikipedia geöffnet hat.

Stephen Wolfram - der Mann hinter Mathematica und Wolfram|Alpha
Stephen Wolfram – der Mann hinter Mathematica und Wolfram|Alpha
Was lernen wir daraus? Ausgangspunkt ist immer noch die Frage, die jemand beantwortet haben möchte. War früher auch schon so: Bibliotheken waren für Streber und Langweiler; wer auf dem Quivive war, der wusste, wen er fragen musste. Das ist im Kern der Unterschied zwischen Vater und Tochter. Der alte Mann öffnet die Bibliothek namens „Wikipedia“, das Mädchen weiß, wen es auf welchem Weg fragen muss. Dieses Phänomen hat übrigens ein Mann namens Stephen Wolfram (den wir kürzlich hier gefeiert haben) sehr früh erkannt. Seine Findemaschine „Wolfram|Alpha“ war von Anfang an auf Fragen in natürlicher Sprache angelegt – wer bei Wolfram|Alpha nach der 1950er-WM sucht, gibt dasselbe ein, was man heutzutage Alexa, Siri, Cortana oder dem Google Assistant zuruft.

Alan Turing, der große Wissenschaftler der die KI vorweggenommen hat
Alan Turing, der große Wissenschaftler der die KI vorweggenommen hat
Womit der Bogen zum Superthema „Künstliche Intelligenz“ geschlagen wäre. Einer der Kerne der KI besteht darin, dass „Maschinen“ die sogenannte „natürliche Sprache“ der Menschen verstehen. Dieses Ziel lässt sich bis auf den Ur-Vater aller Ideen rund um die künstliche Intelligenz zurückführen, den begnadeten Alan Turing. Schon bei seinem legendären Test ging es schließlich um Sprache; hier als mögliches Messinstrument dafür, wer antwortet: Mensch oder Maschine. Wer sich heute mit Alexa unterhält, stellt sich diese Frage nicht mehr – der Turing-Test hat sich erledigt.

Vermutlich ist aber die Erkennung natürlicher Sprache durch die digitalen Assistenten, die in unseren Smartphones und Computern wohnen oder in unseren Zimmer auf uns hören, dieselbe Falle, in die wir Digisaurier in Sachen Internet getappt sind. Weder Alexa und Cortana, noch Siri und der Google Assistant sind totale Wissensmaschinen, sondern zapfen dieselben Bibliotheken an, die wir im Web selbst auf- und durchsuchen könnten. Je mehr wir aber diesen verständnisvollen Robotern vertrauen, desto schneller verlieren wir unsere Fähigkeit, selbst an der Quelle zu recherchieren. Und das könnte die Menschheit zurück in eine selbstverschuldete Unmündigkeit führen.

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